"Five Beards on the road"

THE DUBLINERS in Germany

Tagebuch eines Film-Abenteuers von Willie Burger

Vorworte
Vor vier Jahren ist Ronnie Drew gestorben. „The Daddy“ der legendären Dubliners erlag nach langer, schwerer Krankheit einem Krebsleiden. Es gab viele unmittelbare Nachrufe, irische Musiker hatten kurz vor seinem Tod sogar noch ein „Lied für Ronnie“ komponiert.
Im Januar 2012 starb Barney McKenna, „Fisherman“ und begnadeter Banjospieler. Von den ursprünglichen Dubliners ist John Sheahan nun „the last of the old grey whales“ und selbst John gehört eigentlich schon zur „next generation“, wie er mir weiland 1994 beim Gespräch in Traunstein, Bayern, verriet.
Und in diesem Herbst des Jahres 2012 geben die Dubliner ihre Abschiedstournee in Deutschland, nach 50 Jahren Bandgeschichte.
Nun, eine große Weile später, ist es an meiner Zeit, einige nachgetragene Erinnerungen an jene großen Musiker zu veröffentlichen, denen ich persönlich begegnen durfte – ein Geschenk, für das ich sehr dankbar bin.
In meinem Tagebuch, das vor nunmehr fast vierzehn Jahren bereits als Booklet gedruckt wurde, habe ich die Erlebnisse während der Dreharbeiten zu meinem Musikfilm „The Dubliners in Germany“ im Jahr 1994 und 1995 festgehalten.

Prolog
"Als Dokumentarfilmer musst Du zur rechten Zeit am richtigen Ort sein und die wichtigen Leute treffen, um Ihnen die wesentlichen Fragen zu stellen."
Dieses Credo gilt nicht nur für Dokumentarfilmer – es definiert so vieles im Leben. 
Wenn ich zurück blicke, so scheint das Leben manchmal aus einer Verkettung von Zufällen zu bestehen, die sich zu verschiedenen Zeiten unter völlig unvorhersehbaren Bedingungen ineinander fügen. Und doch kommt es einem manchmal so vor, als wären diese Zufälle gar nicht so zufällig, sondern doch irgendwie vorher bestimmt. Wir werden nie genau wissen, ob wir von Vorhersehung oder Zufall ist geleitet oder ver-leitet werden. Doch wir wissen meistens genau, wann die Zeit für etwas Bedeutsames, für etwas Ungewöhnliches gekommen ist.

Gummersbach / Linus
Mein Film über die DUBLINERS wäre wohl nie entstanden, wenn ich nicht im November 1968 als damals 16jähriger mit einigen Freunden ins „Linus“, eine Studentenkneipe in meiner Heimatstadt Gummersbach, gegangen wäre, in der eine für die damalige Zeit unglaubliche Musik vom Plattenteller gespielt wurde: Eine Stimme, die "wie Koks unter der Tür knirscht", sang, oder vielmehr: sie knarrte aus den Lautsprecherboxen und erzählte in einem Slang, den nur die wirklich Eingeweihten überhaupt verstehen, über sieben Nächte, die aus einem normalen Ehemann einen vollkommenen Trottel machen. Unter dem Titel "The Seven Drunken Nights" würde dieser Song sogar in den englischen Hitparaden herum geistern, meinte der Ingenieurstudent, der die Kneipe führte. Was das denn um Himmels willen für eine Musik sei, fragte ich, und er antwortete lapidar: Die Dubliners, irgendwelche wild gewordenen Iren mit Vollbärten, die man auf Deutschland losgelassen hat!
Ich hatte vorher nicht viel von Irland gehört, außer dass die Insel am nordwestlichen Rande von Europa liegt, dass es dort eine Menge Schafe gibt, wo es ständig regnet und ab und zu Bomben hoch gehen. Und dass Dublin die Hauptstadt der Republik Irland ist, wusste ich aus dem Fernsehquiz "Einer wird gewinnen" mit Hans Joachim Kulenkampff.
Ich selbst war zu der Zeit eingefleischter Rock 'n Roller, trug mein Haar im Nacken mutig bis auf den Hemdkragen und gehörte zur Stones-Fraktion, was in jenen Jahren so etwas wie eine Lebensphilosophie bedeutete. Gegenüber der Beatles-Welle waren wir über die Zeit resistent geblieben und auch der Umstand, dass die Stones längst nicht so erfolgreich waren wie die von uns ungeliebten Liverpooler, konnte dieses Bekenntnis nicht erschüttern: „You can’t get really no satisfaction, Paul McCartney!“
Und dann kam plötzlich diese merkwürdige irische Musik daher, die mein Sonnengeflecht so unmittelbar vibrieren ließ, dass ich vor lauter innerer Begeisterung anfangs geringschätzig abwinkte, um von meinen Freunden nicht als Verräter an Mick Jagger & Co. gegeißelt zu werden. Ich war froh, schon bald wieder zu allgemein akzeptierten Pink-Floyd-Klängen auf einem Sperrmüllsofa im roten Licht einer 60-Watt-Glühbirne herumzulungern und den Studentinnen hinterher zu gaffen. Während sie ihre am Hintern eng anliegenden und an den Knöcheln weit ausladenden Shake- und Letkiss-Hosen in der Kneipe ausstellten, und ich von einer Karriere als Rocksänger träumte, mit der ich die Herzen der Angebeteten zu erobern hoffte, knarrte die Stimme zum x-ten Mal die "Seven Drunken Nights" aus den Lautsprechern. Ein Freund, der mir just in dem Moment einen Zug aus einer merkwürdig großen, selbst gedrehten, tütenartigen Zigarette gestattete, machte irgendeine abfällige Bemerkung, während ich mir die Lunge aus dem Hals hustete. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, sah ich, wie Studenten und Studentinnen im Rhythmus des Liedes mitklatschten und - wie es schien - noch mehr Bier tranken als sonst üblich.
In den nächsten Tagen wurmte eine Melodie meine Ohren, aber die Erinnerung an die biederen Ingenieurstudenten, die mitgesungen hatten und zudem auch noch erfolgreicher bei den Mädchen gewesen waren, verdarben die vollkommene Identifikation mit der Musik der DUBLINERS. Stattdessen warf ich die "silly old fools" in den Abfalleimer meiner eigenen jugendlichen Überheblichkeit.

Siegen 1971
Die Jahre vergingen und ich war inzwischen selbst Student geworden. Zu den Stones waren Gruppen wie Tangerine Dream, Ashra Tempel, Popul Vuh und Kraftwerk dazu gekommen, und die vergeistigte junge Seele suchte zu sphärischen Klängen meditierend nach neuem Sinn.
Es waren Gruppen wie „Fairport Convention“, „Steeleye Span“ und die wirklich unglaubliche „Incredible String Band“, die die Jigs und Reels zuerst in unsere Wohngemeinschaft brachten. Wenn sich die Kommilitonen zu alternativen Feten versammelten, um Marx und Engels, Mao und Bakunin einmal zu vergessen, stellten sie sich im Kreis auf und imaginierten Volksnähe. „Folk Rock“ nannten wir die Musik, zu der sich so wunderbar in Gruppen tanzen ließ. Mit dieser Musik kamen auch die DUBLINERS wieder zurück, das heißt: sie waren eigentlich nie weg gewesen! "The Swallow’s Tail Reel" und der "Mason's Apron" ließen die Knie zucken und die Beine wirbeln. Songs wie: "Finnegan's Wake" , "The Leaving of Liverpool" oder "The Wild Rover" wurden mitgesungen, oder vielmehr: mitgegrölt. Dabei erschien uns die Dubliners-Musik erdiger und auch ehrlicher als der etwas verkünstlelte Folkrock der Swarbricks, Carthys und Williamsons.
Und dann waren da die Balladen. Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag im Winter 1971, als ich zum ersten Mal ein Lied hörte, bei dem mir eine Gänsehaut über den Rücken lief. Mit einer Stimme, in der Kraft und Sentimentalität gleichermaßen  lag, sang Luke Kelly die irische Version von den "Moorsoldaten". "The Peat Bog Soldiers" wurde für uns zur Hymne und reihte sich nahtlos ein zwischen Lieder wie "Bella Ciao", "Avanti Popolo" und die "Schmuddelkinder" von Franz Josef Degenhard.

Irland 1972 / Dublin – Glendalough
Im Mai 1972 entschlossen sich mein Freund Hajo Steinert und ich spontan zu einer Reise nach Irland. Wir buchten ab Düsseldorf und landeten nach einem stürmischen Flug mit einer BAC 111 am 25. Mai auf dem Dublin-Airport. Es regnete naturgemäß in Strömen. Wir hatten wenig Geld und lediglich ein kleines Zwei-Mann-Zelt dabei. Deshalb übernachteten wir erstmal in einer Jugendherberge, besuchten am nächsten Tag den schon damals berühmten "O'Donoghue's Pub" und wunderten uns darüber, dass in Dublin viele Zeitungsverkäufer wie "The Dubliners" aussehen.
Dann beschlossen wir, in die Wicklow Mountains zu trampen. Über Bray und Greystones gelangten wir schließlich in eine gottverlassene Gegend. Kurz vor Glendalough wurden wir von einem dreirädrigen, klapprigen Karren etwa zwei Meilen tiefer in die Unwirtlichkeit mitgenommen und standen schließlich am Rande der Straße, ohne dass irgendwo eine Menschenseele zu sehen war.
Nach einer halben Stunde sahen wir in einiger Entfernung ein Auto kommen. Wir streckten unsere Daumen in den Wind und der Wagen hielt tatsächlich. Es war ein weißer Rolls Royce, "einer von Zweien in ganz Irland", wie der junge Mann behauptete, der den Rolls fuhr.
"Ich fahre den Wagen ein bisschen spazieren", sagte er ohne Anmaßung, "wollt Ihr eine Rundfahrt durch die Mountains mitmachen? Ich bringe Euch dann zum Schluss nach Glendalough."
Wir willigten ein. Der Bursche gab Gas, bot uns echten irischen Whiskey aus der eingebauten Bar an und raste dann mit annähernd 60 Meilen durch die engen Straßen. Aus dem Radio erklangen Jigs und Reels, und der Whiskey schmeckte nach mehr. Als wir schließlich in Glendalough ankamen, war ich zwar zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Rolls Royce gefahren, aber meinen Magen schien ich irgendwo unterwegs auf der Strecke verloren zu haben.
Glendalough war zu der Zeit noch eine Ansammlung einiger Häuser ohne Touristenbusse, aber schon mit der kleinen Souvenirbude in Friedhofsnähe. Eine Meile weiter, am Upper Lake, wo heute ein riesiger Parkplatz ist, schlugen wir unser Zelt auf und versuchten verzweifelt, Steaks in zusammen gerollter Alufolie zu grillen. Der Regen, der schon seit Stunden ohne Unterlass niederging, vereitelte dies mit irischer Hartnäckigkeit und zwang uns, die nächsten Tage die Hälfte unserer Ersparnisse für die klammen Betten und das vorzügliche, aber unbezwingbare Frühstück von Mrs. Betts auszugeben. Während sie uns nachmittags kiloweise "homemade scones" und literweise Tee servierte, wollte sie immer wieder wissen, ob wir "okay" seien. Ihr freundliches Lächeln, das durch die beiden hervorstehenden Zähne noch verstärkt wurde, machte sie für uns zur Urmutter irischer Gastfreundschaft und Lebensfreude.

Irland 1973 / Ardara, Co. Donegal
Ein Jahr später, bei meiner zweiten Irlandreise im Sommer 1973, sang ein gewisser Mackie Brown in der "Green House Bar" in Ardara, County Donegal, die "Seven Drunken Nights". Dabei hüpfte er wie ein Gockel in der Kneipe umher, begleitet von James Josie McHugh, einem älteren, enorm dicken Lokalmatadoren, der mit seiner Fiedel die Herzen alter Frauen und jugendlicher Touristinnen gleichermaßen verzückte. Josie's Lieblingsstücke waren: "The Hen's March Through The Midden" und "The Four-Poster Bed". Wenn er sie spielte, hüpfte Mackie Brown durch die Kneipe, schwadronierte um die älteren Damen herum und gerierte sich wie eine Karikatur von Gertrude Degenhard - nur noch zappeliger und dürrer als die Zeichnungen je sein können. Später tanzten die alten Frauen gemeinsam mit amerikanischen Touristinnen Oldtime Waltzes, und ich war am Ende des Abends froh, allen Heiratsanträgen widerstanden zu haben. Es war klar, dass ich nach diesen einschlägigen Begegnungen in den darauf folgenden Jahren immer wieder nach Irland fahren musste.

Siegen 1973 / Siegerlandhalle
Einige Zeit nach meiner Begegnung mit James Josie McHugh kaufte ich mir für hundert Mark eine gebrauchte Geige und begann unter dem Protest meiner Wohngemeinschaftsgenossen unerhörte Töne auf meinem Instrument zu kratzen. Man verbannte mich auf die Toilette, die eine halbe Etage tiefer im Treppenhaus lag, und dort lernte ich voller Ingrimm die ersten Tunes auf der Fiedel. Auf lediglich einskommafünf Quadratmetern wurde mir klar, dass irische Geiger ihre Technik auch auf dem Klo gelernt haben mussten, und so wunderte ich mich nicht schlecht, als ich im Herbst 1973, in der dritten Reihe sitzend, das erste Konzert der bewunderten DUBLINERS in der Siegerlandhalle hörte. Ich sah, dass John Sheahan ganz und gar "klassisch" spielte, eine Art Gentleman der irischen Volksmusik. Ich war von seiner spielerischen Präzision ebenso begeistert wie von seinem enormen Rhythmusgefühl. Barney McKenna brillierte bei seinem Solo wie ein Irrwisch auf seinem Tenorbanjo und griff mitten im Reel plötzlich die Bünde mit der linken Hand von oben (ich dachte unwillkürlich an Jimi Hendrix). Danach veranstalteten John, Ciaran Bourke und Barney den berühmten "Octopus-Reel", eine artistische Übung, die schon auf vielen Fotos verewigt wurde. Luke Kelly sang "Springhill" und ich spürte wieder diesen geheimnisvollen Schauer in mir, der mich jedes Mal überkommt, wenn eine dieser melancholischen Balladen erklingt. Lukes rotes, buschiges Haar wurde vom Bühnenlicht illuminiert und gab ihm eine fast unwirkliche Korona. Seine Interpretation der Balladen zog mich vollkommen in Bann, und sein hintergründiger Humor, mit dem er die Stücke ansagte, hat mich tief beeindruckt.
Die „Dubliners“ hörte ich in den Jahren darauf nur noch einmal "in concert". Ich erfuhr 1974 von Ciaran Bourkes Hirnblutung und sah die Band kurz darauf in einer neuen Besetzung. Ich war schon seit einiger Zeit selber so tief mit der irischen Musik verbunden, dass ich mich wunderte, mit welcher Selbstverständlichkeit die Dubliners schon damals ihrem Stil treu blieben. Die Zeit der kontinentalen Folkfestivals war angebrochen und „Planxty“ war schon längst eine Legende. Mit den Festivals in Osnabrück, Lennestadt und Ingelheim kamen Gruppen wie „Boys of the Lough“, „Alba“, „Oisín“ und „Ossian“, schließlich die famose „Bothy Band“. Die rockigen "off-beat-chords" mit "open tuning" faszinierten die Folk-Enthusiasten aus Deutschland, Holland und Frankreich und die irischen Musiker fanden allerorts reichlich Epigonen.
Auch wir blieben von diesem Trend nicht verschont. Mit meiner eigenen damaligen Gruppe "Southwind" traten wir Mitte bis Ende der siebziger Jahre schließlich selbst bei einigen Festivals auf, immer wieder aufs Neue inspiriert durch sommerliche Irlandreisen, insbesondere nach Donegal und Clare. Ich lernte von irischen Geigern "to play by heart and by listening", hasste das Notenlesen wie die Pest und bemühte mich um einen sauberen Strich „... and I’m still looking for, what I haven’t found ...“

1979 – 1986 / No Irish Ways
Anfang der achtziger Jahre starb James Josie McHugh, mein eigentlicher Geigenmentor. 1984 hörte ich von Luke Kellys Tod und ich spürte, wie eine Erschütterung durch die gesamte Folkszene ging. Wir alle wussten, dass ein ganz großer Sänger von uns gegangen war.
Lukes Krankheit erschien mir damals fast wie ein Symbol und ging parallel mit einem zwischenzeitlichen Abflauen der Popularität der irischen Musik Anfang der Achtziger Jahre. Erst die „Pogues“ machten die irische, traditionelle Musik auf dem Kontinent wieder populärer: Punks und Folkfreaks hüpften, klatschten und tanzten bei den Konzerten Pogo - eine musikalische und stilistische Ehe, die ich mir Jahre zuvor nie hätte vorstellen können.
Ich selbst ging in den frühen achtziger Jahren auf musikalischen Abwegen, versuchte, eigene deutsch geschriebene Texte mit Folkrock-Elementen zu verknüpfen und scheiterte hoffnungslos an diesem Konzept. Ich unternahm Saitensprünge in den Swing und Jazz, versuchte mich am Bluegrass und spürte, dass mich das irische Element darin am meisten in seinen Bann zog. Zwischen 1979 und 1986 fuhr ich nicht nach Irland.
Gleichzeitig begann ich mit der Filmarbeit. Schon Anfang der achtziger Jahre - kurz nach meinem Umzug nach Bremen - träumte ich von Dreharbeiten in Irland, doch dieser Traum sollte sich erst mehr als zehn Jahre später erfüllen. 

Bremen 1993 / Die Glocke
Im November 1993 lud mich die Musikerin Tina McLoughlin, die damals in meiner Band - "The Josie White Revival Band" – Tinwhistle spielte, zu einem Konzert in die Bremer "Glocke" ein.
"Dort spielen die Dubliners", sagte sie, "ich habe Backstage-Karten und wir kommen umsonst rein." Ich zögerte. Mit den „Dubliners“ hatte ich mich jahrelang nicht weiter beschäftigt. Ich hatte zwar hin und wieder neue Songs gehört und mich gewundert, wie wenig sich im Laufe der Zeit eigentlich am Stil der Band verändert hatte. Da ich jedoch an jenem Abend nichts anderes vorhatte, nahm ich Tinas Angebot an und verabredete mich mit ihr um halb acht vor dem Haupteingang.
Noch hatte ich keine Ahnung, dass an diesem Abend die eigentliche Geschichte des Dubliners-Films beginnen sollte...

Wir gehen durchs Foyer zu den Backstage-Räumen. John Sheahan begrüßt Tina und zeigt ihr ein paar selbst geschriebene Noten. Tina holt ihre Tinwhistle aus der Tasche und spielt das Stück vom Blatt. John nimmt seine Geige und intoniert dazu die zweite Stimme. Tina stellt mich als Musiker vor und John fragt nach den Instrumenten, die ich spiele. Barney Mckenna kommt hinzu und lädt uns ein, vom kalten Buffet zu nehmen, es sei genug da für alle. Einige Fans umkreisen die fünf Musiker wie Nachtfalter das Licht, und Eamonn Campbell erzählt einigen dieser "jitterbugs" einen Witz. Ronnie Drew sitzt in einem kleinen Nebenraum und löst Kreuzworträtsel. Seán Cannon stimmt seine Gitarre, er ist sehr konzentriert. Eamonn prostet uns mit einem Bier zu. Ich nehme auch eine Flasche und er fragt nach meinem Namen. " ... but don't call me Willieburger !" sage ich noch, und nach einem kurzem fragenden Blick lässt Eamonn ein heiseres Lachen hören, das noch viel schärfer als Koks knirscht. Tina und ich verlassen den Backstage-Raum und suchen uns einen Platz auf dem Rang, links oben über der Bühne. Die Fans warten im Foyer, einige gehen schon in den Saal, nehmen ihre Sitzplätze ein: alt und jung zwischen 16 und 60 einträchtig beisammen - Schüler und Schülerinnen, Büroangestellte, Fernfahrer, Hausfrauen, Lehrer, Althippies, Neuhippies, Punks, Manager, Seeleute. Irgendetwas ist seltsam an dieser Mischung, denke ich, und ich frage mich, ob alle auch wirklich zum Dubliners-Konzert wollen. Ich spreche mit Tina darüber. Tina sagt in ihrer typisch trockenen Art: "Das ist immer so !" "Irgendwie ist es ungewöhnlich", antworte ich. "Das ist wie in Irland", meint Tina und begrüßt eine Bekannte unten im Saal. Ich gehe nochmals hinaus ins Foyer, hole mir ein Bier und schaue mich um. Es herrscht eine gespannte, aber gleichzeitig auch lockere Stimmung. Der Merchandising-Tisch mit dem alle überragenden Tourmanager Michael Cropp ist dicht umlagert. Das schwarze Bier wird getrunken. Hier und da hört man Bruchstücke aus irgendwelchen Dubliners-Songs. Die Zeit hat den Atem angehalten, denke ich, so, als wären die Kapitel eines zwanzig Jahre alten Buches plötzlich zurückgeschlagen worden. Ich gehe zurück zu meinem Platz.
Das Konzert beginnt. John, Ronnie und Seán kommen als erste auf die Bühne, dann Eamonn und schließlich - mit gebührendem Abstand - Barney, das gelobte Banjo auf dem Arm. Ronnie schlägt einen Akkord, John spielt ein paar Töne zum Auftakt, die Band setzt ein. Der "Swallow's Tail Reel" schließt endgültig den Zeitkreis und ich befinde mich wieder Anfang der siebziger Jahre in der Siegerlandhalle mit demselben staunenden, geöffneten Mund wie damals. Da stehen sie nun einträchtig nebeneinander und spielen ihre Musik mit der Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit wie in einem irischen Pub, so, als hätte es in den letzten zwanzig Jahren keine neuen Trends in der Folkmusik gegeben, keine neuen Musikrichtungen, keinen Punk, keinen Rap. Sie spielen die Stücke gradlinig, schnörkellos und doch merkt man jedem Song, jedem Instrumental eine tief sitzende virtuose Routine an, die sich umso mehr verstärkt, je länger das Konzert dauert. Als Ronnie zum Schluss des ersten Sets "Oro sé do Bhatha Bhaile" singt und das Stück mit dem Reel von John und Barney ausklingt, bin ich restlos begeistert. Ich gehe für einige Minuten nach draußen, nehme eine Brise frische Herbstluft, in der man den Winter schon riechen kann, und trinke ein weiteres Bier.

Das Konzert dauerte in dieser Nacht länger als ich vorher gedacht hatte, und es ging später noch in einem Fischrestaurant im Bremer Schnoorviertel weiter. Doch ich will der Reihe nach erzählen:
Nach dem über zweieinhalb stündigen Konzert kamen einige besonders enthusiastische Fans in die Backstage-Räume und überbrachten Weihnachtsgeschenke. Eine Frau, deren Gesicht ich schon früher im Supermarkt in meiner Nachbarschaft gesehen hatte, trug einen riesigen Geschenkkorb herein und verteilte die Sachen an die Musiker. Dann wurde ein Album mit alten Fotos aufgeschlagen und Autogramme gegeben. Ronnie hatte seinen hellen Trenchcoat schon angezogen und verabschiedete sich: "Ich muss ins Hotel, ich bin müde und morgen ist noch ein anstrengender Tag", sagte er zu Tina gewandt und gab mir die Hand zum Abschied. Wir warteten, bis die meisten Fans ihre Autogramme abgeholt hatten und gingen dann gemeinsam ins Fischrestaurant.

Ich setze mich neben John und nach einer Weile erzähle ich ihm, was mir an dem Abend aufgefallen ist. John hört mir ruhig zu und fragt, ob das ungewöhnlich sei. Ich antworte, dass ich es höchst ungewöhnlich fände, dass sich in einem Konzert so viele unterschiedliche Menschen einfinden, um eine Musik zu hören, die so wenig mit Mode und Trends zu tun hat wie die Musik der Dubliners. "Eine echte Musik für die ganze Familie", sage ich, "man müsste einen Film darüber machen !" John lacht. "Hast Du etwas mit Film zu tun ?", fragt er und ich erzähle ihm über die Dreharbeiten zu meinen letzten Dokumentarfilm, ein europäisches Segelabenteuer, bei dem ich in der Hafengegend von Dublin gefilmt hatte. John hört interessiert zu und es entwickelt sich ein spannendes Gespräch über Dublin und seine Menschen. Wir löffeln unsere Fischsuppen und John bestellt noch Seezunge. Nach einer Weile - ich bin gerade auf der Toilette Barney McKenna begegnet - frage ich John, ob es denn einen Film über die „Dubliners“ gibt. Ich könne mir nicht vorstellen, dass dieses Phänomen noch nicht verfilmt sei. Doch John antwortet: "So weit ich weiß, gibt es einige Fernsehshows bei denen wir aufgetreten sind und einen Film über Dublin, in dem Ronnie eine Hauptrolle spielt und die Band einige Lieder singt. Ach ja, und das englische BBC war auch mal bei uns zuhause und hat ein paar Aufnahmen gemacht." "Und es gibt keinen Film über eine Tournee der Dubliners in Deutschland ?" frage ich. "Nein, es gibt keinen", antwortet John. Mein anfängliches ungläubiges Interesse steigert sich zu einer latenten Aufregung: "Ich würde gerne solch einen Film machen", schlage ich vor, "einen Film, der die Dubliners 'on tour' in Deutschland zeigt und sie gleichermaßen portraitiert, wie wäre das?" John blinzelt mich von der Seite an: "Schick' mir ein Fax mit Deiner Idee", meint er, "dann sehen wir weiter." Ich verspreche ihm, mir einige Gedanken zu machen und ihm die Idee in den nächsten Wochen zuzusenden. "Du brauchst Dich nicht zu beeilen", ergänzt er und versucht meinen Eifer ein wenig zu bremsen, "in Irland geht alles ein kleines bisschen langsamer."
Ich trinke noch ein paar Bier und verabschiede mich dann von John und Tina. Eamonn und Barney haben es sich am Tresen gemütlich gemacht und Seán singt deutsche Volkslieder. Eine besonders begeisterte deutsche Fanatikerin klatscht wie in Trance gegen den Rhythmus des Liedes, und Michael Cropp, der Tourmanager, scheint vom Schlaf nicht mehr allzu fern zu sein und hält seinen Bauch liebevoll umfangen ...

Ein Dubliner im „Dubliner“ / Dublin 1994
„Manchmal laufen die Dinge anders als man denkt.“ Dies ist eine Binsenweisheit, doch sie ist so wahr wie das Leben selbst.
Von Tina hatte ich John Sheahans Telefon- und Fax-Nummern bekommen, doch ich war zeitlich eingebunden in die Fertigstellung meines Dokumentarfilms. Auch sonst gab es einiges zu tun. Langsam reifte zwar ein Konzept heran, das ich schließlich aufschrieb, doch nach einiger Zeit gefiel mir die Idee nicht mehr. Ich ließ die Angelegenheit eine Weile liegen und kümmerte mich um andere Dinge.

Im Herbst 1994 fand in Dublin eine Medienkonferenz statt, zu der ich eingeladen war. Eine gute Gelegenheit, um Kontakt zu John Sheahan aufzunehmen und mit ihm über die Idee zum Film zu sprechen. Ich schrieb meine Idee auf zwei knappe Seiten, und plötzlich fand ich Gefallen daran. Ich schickte das Exposé als Fax nach Dublin mit der Bitte um Antwort, doch als der Tag meines Abflugs kam, war noch keine Rückmeldung erfolgt. Also beschloss ich, erst einmal zur Konferenz nach Dublin zu fliegen und mein Glück dort zu versuchen.
Am 15. September 1994 kam ich in Dublin an und fuhr mit dem Taxi in mein Bed & Breakfast, zu Mrs. Trehey nach Ringsend. Ich hatte schon vorher so viele Termine verabredet, dass ich kaum Zeit hatte, die "fair old city" richtig zu genießen. Da ich jedoch einen Tag früher angekommen war, beschloss ich - in einem Anflug von Nostalgie - nach Bray zu fahren und von dort aus in die Wicklow Mountains. Ich nahm den DART von der Enfield-Road-Station aus in Richtung Süden und kam bei strahlendem Sonnenschein in der Hafenstadt an. Dort trank ich erstmal einen Tee, aß "homemade scones" in einem italienischen Restaurant mit rot-weiß karierten Tischdecken und ließ die vielen Erinnerungen an vergangene Irlandreisen Revue passieren ...

Am nächsten Tag hatte ich John Sheahan an der Strippe. Ich erzählte ihm von unserem Gespräch in Bremen und meiner Filmidee, und er war so ehrlich zuzugeben, dass er sich nicht daran erinnern könne. Mein Fax hatte er offenbar auch noch nicht gelesen. Trotzdem verabredeten wir ein Treffen, zwei Tage später in "The Dubliner", eine Bar in einem großen Hotel in Ballsbridge ...

Ich bin schon gegen Mittag dort, weil ich von Ringsend zu Fuß gegangen bin und setze mich erst mal an die Bar, um einen Kaffee zu trinken. John hat sich für ein Uhr angekündigt und es ist noch eine Viertelstunde bis dahin. Ich trinke meinen Kaffee ohne Eile. Es wird ein Uhr. Ich bestelle noch einen Kaffee. Es wird viertel nach eins und es wird halb zwei, ohne dass John gekommen ist. Gegen viertel vor Zwei bestelle ich einen Whiskey, gegen zwei Uhr noch einen. Um viertel nach Zwei rufe ich zuhause bei John an. Niemand nimmt den Hörer ab. Ich denke, dass er den Termin vielleicht vergessen hat und schaue mich in der Eingangshalle um. Ein Paar sitzt wartend in einer Couchecke, Hotelgäste kommen und gehen. Als ich gerade wieder zurück in die Bar gehen will, sehe ich John durch die Eingangstür kommen. Er geht zuerst auf das Paar zu und begrüßt sie mit entschuldigenden Gesten. Dann bemerkt er mich und kommt mit den Beiden zu mir herüber. "Du bist Willie, nicht wahr ? Tut mir leid, dass ich ein bisschen zu spät gekommen bin, aber mein Auto war irgendwie kaputt", sagt er,. "waren wir nicht für zwei Uhr verabredet ?" Als ich den Kopf schüttle, lächelt er und meint nur "Hm". Dann stellt er mich dem Paar vor, das einige Meter entfernt steht und wartet: "Das sind Karsten Jahnke und seine Frau. Sie sind aus Hamburg herübergekommen, um mit mir über die nächste Deutschlandtournee zu sprechen." Und zu den Jahnkes gewandt: "Das ist Willie Burger, der Mann mit der Filmidee." Wir geben einander die Hände und John lädt uns an einen Tisch zum Essen und Trinken ein. Nachdem sich John über unser Wohlbefinden erkundigt hat, fordert er mich auf, die Filmidee zu erzählen. Ich skizziere kurz meine Gedanken, trinke ein paar Schlucke Bier und höre mir in der Folgezeit Episoden über Barney McKenna, Ciaran Bourke und Ronnie Drew an, die sich John und Karsten gegenseitig erzählen: Ciaran, der ganze Regale von Alkohol leer trank und immer nur auf die Farbe der Etikette reagierte; Barney, der sein Banjo vor lauter Wut quer durch die Kneipe in die Gläser und Flaschen hinterm Thresen schleuderte; Ronnie, der zur Schwedentournee zu spät kam, weil ihn die Flughafenpolizei in Stockholm für eine Nacht festgesetzt hatte und vieles mehr. "Willie, Deine Idee ist gut", bemerkt John nach mehr als einer Viertelstunde voller Geschichten, "findest Du nicht auch, Karsten ?" Karsten Jahnke nickt trocken. "Wann beginnt eigentlich die Tournee ?" will John wissen und sieht zu mir herüber, ohne eine Antwort abzuwarten: "Ist es möglich, die Vorbereitungen für den Film in so kurzer Zeit zu organisieren ?" Ich schaue ihn ein wenig irritiert an und antworte mit den Schultern zuckend: "Natürlich, wir müssten uns eben ein wenig beeilen." Ein kurzer Moment Schweigen. "Nun lasst uns endlich was essen", schlägt John vor und winkt dem Kellner. "Willst Du auch etwas essen, Willie ?" "Nein, danke", sage ich, "ich bin nicht hungrig." Irgendwie hat es mir die Sprache verschlagen. Erst warte ich fast zwei Stunden und nun soll das Ganze in einer Viertelstunde über die Bühne gehen ? Ungläubig blicke ich in der Runde umher. Karsten und John unterhalten sich über die Speisenkarte, Frau Jahnke prostet mir zu. Ich hebe mein fast leeres Bierglas und sage irgendwas über das irische Wetter. Der Kellner kommt und nimmt die Bestellung auf. John fragt mich nochmals, ob ich etwas essen will, aber ich verneine erneut. "Ich werde jetzt wohl gehen", sage ich etwas unschlüssig zu John, "ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, die Konferenz und so weiter." Und zu Karsten Jahnke gewandt: "Wann wollen wir telefonieren ?" "Nächste Woche", sagt der mit typisch hanseatischem Slang, "dann kommen Sie nach Hamburg und wir klären die Einzelheiten." Ich verabschiede mich Hände schüttelnd von allen, unglücklicherweise zuletzt von Frau Jahnke, und gehe hinaus. Wie peinlich, denke ich noch und schaue mich um. In der riesenhaften Fensterscheibe des Hotels spiegeln sich die Wolkentürme des irischen Spätsommers und verwehren einen Blick ins Innere von "The Dubliner".

Vorbereitungen
In den darauf folgenden Wochen wurde alles anders: zum Teil hektische Vorbereitungen, das Team zusammen stellen, Kalkulation der Produktionskosten, Gespräche in Hamburg und was sonst noch alles dazu gehört. Eine Schwierigkeit war zum Beispiel die Frage, wo der Live-Mitschnitt gemacht werden sollte. Die „Alte Oper“ in Frankfurt und die „Philharmonie“ in Köln wurden in die engere Auswahl genommen. Die Tatsache, dass die zweite Tourneehälfte in Frankfurt beginnen sollte, sprach für die Alte Oper, für die Philharmonie in Köln sprach die famose Innenarchitektur. Das Congress-Centrum in Hamburg war schon ganz am Anfang ausgeschieden, weil dort das letzte Konzert stattfinden würde - und wenn da was schief geht ?! Nein, das Risiko war zu groß. Wir einigten uns schließlich auf Frankfurt und ich engagierte Erwin Renner für die technische Organisation des Live-Mitschnitts, einen Österreicher der in Hamburg lebt. Ich besorgte mir alte Videos von Auftritten der Dubliners im Irischen Fernsehen RTE, sah mir den 1000-Jahre-Dublin-Film an, in dem Ronnie Drew erzählt und singt und arbeitete derweil emsig am Konzept weiter. Mit Kameramann Ulli Scholz
Bild: Der begnadete Kameramann
 besprach ich Motive und Bildsprache, und mit Frank Dostal, einem Freund von Karsten Jahnke, wurde das Konzept abgesprochen und festgelegt. Wolfgang Fellenberg, der die Tournee gemeinsam mit Bärbel Münster von der Konzertagentur Jahnke organisieren sollte, während wir unterwegs waren, besorgte die notwendigen Drehgenehmigungen und dann ging's los ...

Berlin / Tempodrom
Am 21. Oktober 1994 kommen wir um halb neun Uhr abends in Berlin an. Im Hotel treffe ich Michael Cropp, und wir unterhalten uns über den Ablauf der Tournee und die Drehorte, die für den Film besonders interessant sein könnten. Nach einer unruhigen Nacht fahren wir am nächsten Morgen zum Flughafen Berlin-Tegel, um die Musiker abzuholen. Gegen Mittag haben sich schon einige Fans versammelt. Manuela Kohns und Rainer Burgler, die allgemein die "grünen Schatten der Dubliners" genannt werden, sind bereits da. Seán Cannon ist schon einen Tag früher angekommen und wartet im Hotel auf die Anderen. Der Flug aus London hat eine halbe Stunde Verspätung und wir gehen noch schnell etwas essen. Dann postieren wir uns nahe der gläsernen Schiebetür, durch die die Band kommen soll. Als erster erscheint Ronnie Drew und wird von den Fans klatschend begrüßt. Als er seinen Gepäckwagen vor dem Flughafengebäude geparkt hat, zündet er sich schnell eine Zigarre an. Hinter Ronnie kommt John Sheahan und begrüßt Michael Cropp feixend mit "Welcome to Berlin". Barney McKenna sucht seinen Weg durch die Menge, er sieht ziemlich mitgenommen aus. Eamonn Campbell und Michael umarmen sich. Eamonn's unglaubliches Lachen knattert durch das Foyer. Draußen vor dem Flughafengebäude warten wir auf den Tourneebus. Barney ist nirgends zu sehen. Ronnie Drew, der neben mir steht, philosophiert: "Es gibt drei wichtige Fragen im Leben: Was ist das Leben, wie lange dauert es und - wo ist Barney McKenna ?!" "Ich fühle mich nicht so gut", sagt Barney, als ich ihn begrüße. Er sitzt schon in Rainers Bus und wartet ungeduldig darauf, dass er ins Hotel gefahren wird. Uli inszeniert noch ein kurzes close up von Ronnies Hand, die die Seitentür des Tourneebusses aufschiebt und dann packen wir unser Equipment zusammen, um so schnell wie möglich zum „Tempodrom“ zu gelangen, in dem das abendliche Konzert stattfinden soll. "See you later", ruft John uns nach, als wir uns in den Fahrstuhl zum Parkdeck hineinzwängen.

Das „Tempodrom“ ist ein ganz normales Zirkuszelt, in dem alle möglichen Veranstaltungen stattfinden. An diesem Abend jedoch ist man auf eine größere Menge von Fans vorbereitet. "In Berlin ist oft der Teufel los, wenn die Dubliners auftreten", sagt Michael Cropp, "manchmal prügeln sich einige verrückte Leute nur so zum Spaß; jedenfalls ist die Stimmung unvergleichlich, vor allem in der zweiten Hälfte, wenn die Hits gespielt werden." Ich bereite das Team auf die Dinge vor, die da kommen sollen, bespreche noch das ein oder andere Detail mit Joop und René, den beiden Holländern, die bei der Tournee für Sound und Licht verantwortlich sind und warte gespannt auf den Beginn des Konzerts.
Das Konzert verläuft gut, es gibt zwei Zugaben: "The Irish Rover" und "The Wild Rover". Für die dritte Zugabe sind die Enthusiasten nicht ausdauernd genug. Loreena McKennitts sphärische Klänge geleiten die Berliner in die noch ziemlich milde Herbstnacht hinaus. Ihr Instrumental schwingt noch in meinen Ohren, als wir beginnen, unser Equipment zusammenzupacken, und vermischt sich dort mit den Dubliners-Ohrwürmern...

Der Tag danach
Wenn ich den ersten Drehtag als Symbol für den weiteren Verlauf der Filmarbeiten gewertet hätte, dann wäre es gleichzeitig auch der einzige geblieben. Es lief so ziemlich alles schief, was schiefgehen konnte. Die in Berlin geliehene Kamera fiel aus: zwei Videobänder waren völlig unbrauchbar. Glücklicherweise hatten wir noch eine Ersatzkamera dabei. Backstage, in den Wohnwagen des Berliner Tempodroms, wo normalerweise nach dem Konzert "noch der Bär los sein soll", war absolut "tote Hose". Lediglich drei ältere Ladies begrüßten die bärtigen Musiker und ließen sich zum wievielten Male Autogramme auf irgendwelche alten Dubliners-Schallplatten schreiben. Barney war nach dem Konzert völlig erschöpft in den Wohnwagen hinterm Zelt geschwankt. Er hatte Fieber und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Wind hatte einen von unseren Scheinwerfern umgeweht, der - wie ein Wunder - trotzdem weiterstrahlte. Ronnie ging, wie schon im Vorjahr in Bremen, ziemlich früh ins Hotel. Wir verabredeten uns mit John, Seán und Eamonn in einer Bar und als wir unsere Geräte zusammengepackt hatten, entdeckte ich Ronnies Gitarre, die er in einer Ecke des Wohnwagens vergessen und stehengelassen hatte. Wir stellten sie in unserem Bus sicher und fuhren los, um die anderen zu treffen. Wir waren schon fast eine Stunde im nächtlichen Berlin herumgekurvt, als Claus, unser Fahrer meinte, dass es jetzt wohl genug sei, wir würden die Kneipe ja doch nicht finden, zumal niemand so recht wisse, wie sie eigentlich hieß. Ich war völlig frustriert und ließ mich etwa gegen drei Uhr ins Bett fallen mit der Gewissheit, dass nicht jeder Drehtag so verlaufen kann.

On the Road
In den nächsten sechs Wochen - ebenso wie in dem darauf folgenden halben Jahr - sollten mich die fünf Bärte nicht mehr loslassen.
Es war eine aufregende Zeit, immer am Rande der Erschöpfung, und ich wunderte mich über die unglaubliche Kondition der Musiker, die ja auch nicht mehr die Jüngsten sind, wie wir wissen. Dass sie die Tournee so gut durchgehalten haben - teilweise in besserer Verfassung als ich selbst - zeugt von ihrer langjährigen Erfahrung und einem Lebensstil, in dem Genuss ebenso kein Fremdwort ist wie das "take it easy". "Die Deutschen tun sich ein bisschen schwer mit dem Müßiggang", erklärt mir Ronnie Drew bei einem kurzen Gespräch während des Frühstücks, "sie wissen nicht, wie viel Spaß es macht, das Leben einfach so zu genießen wie es ist - ohne Zeitplan, ohne ständige Termine und Verpflichtungen". Ich erfahre, dass die vielen Klischees, die den Dubliners vor allem auf dem Kontinent anhängen, vor allem die Projektionen ihrer Fans sind, die ihre Idole so sehen wollen, weil ihnen selbst etwas fehlt. Eamonn Campbell drückt es so aus: "Wir sehen einfach ein bisschen wild aus, und wir scheinen nach Meinung der Fans zu den Leuten zu gehören, die dem Boss auch mal sagen, dass er sich verp... soll." Und John Sheahan ergänzt: "Nun ich denke, dass die Deutschen ein bisschen anders mit der Zeit umgehen als wir; sie sind immer sehr pünktlich. Zum Beispiel, wenn wir um acht Uhr noch nicht auf der Bühne sind, fangen garantiert einige rhythmisch zu klatschen an. Dann machen die anderen mit, und wir haben gar keine andere Wahl als uns zu beeilen. Oder ein anderes Beispiel: Wir waren nach einem Konzert zu einer Party eingeladen und fragten einige der Fans, die sich gerade ein paar Autogramme geholt hatten, ob sie nicht Lust hätten, mitzukommen. Aber die winkten ab und sagten, dass sie am nächsten Morgen pünktlich zur Arbeit müssten. Ich glaube, das macht den Unterschied zwischen Iren und Deutschen. Wir leben irgendwas Unkonventionelles, was den meisten Deutschen - so glaube ich – oft fehlt, was sie aber auch gerne leben möchten."

Wenn ich heute - viele Jahre nach den Dreharbeiten - zurückblicke, dann erscheint mir die Zeit der Produktion am Film unglaublich kurz. Und doch ist so viel passiert, dass ich eigentlich zwei oder drei Filme daraus hätte machen können. Nachfolgend daher einige Anekdoten und Erlebnisse, die im Film keinen Platz gefunden haben.

Alfeld / Sporthalle
Als besonderes Geschenk zu seiner Verlobung hatte man für Thomas, einen Waschbrettspieler aus Alfeld, einen Auftritt mit den Dubliners organisiert. Das Ganze war als Überraschung geplant und sollte bei der Zugabe stattfinden. Als Thomas von Ronnie auf die Bühne gerufen wurde, war er sichtlich aufgeregt, aber als er dann schließlich mit seinem Waschbrett auf der Bühne saß und zu "Irish Rover" die Percussions spielte, legte er sich mächtig ins Zeug. Hinterher war er überglücklich und meinte immer nur "Super, einfach super !" Wir machten nach dem Konzert noch ein paar Aufnahmen in den Umkleidekabinen der Sporthalle zu Alfeld, ein kleiner Ort am Rande des Harzes, und ich spielte einige Jigs und Reels auf der Mandoline, im Duett mit John. Eamonn improvisierte einige Bluesnummern auf einer von einem Fan mitgebrachten Wandergitarre und malte zuletzt mit einem Filzstift seine Initialen darauf. Schließlich saßen Seán und ich mit den Instrumenten neben Barney  auf einer langen Holzbank, dem kalten Buffet gegenüber, und begleiteten ihn bei einigen Tunes. Barney hatte sein Melodeon ausgepackt, eine kleine Zieharmonika und spielte zum ersten Mal auf der Tournee "The Job of Journeywork", einen Setdance, den er in den folgenden Wochen dann ins Konzert integrierte, meistens bevor er mit seinem berühmten Tenorbanjo-Solo begann.

Friedrichshafen / Bahnhof Fischbach
Einige Tage später waren wir in Friedrichshafen am Bodensee und Seán Cannon erzählte mir, dass er hier einige Monate gelebt und als Anstreicher gearbeitet hatte, im "Schwabenländle", wie er immer sagte. Im "Bahnhof Fischbach", einem zu einem Kulturzentrum umgebauten alten Bahnhof mit langen Biergartentischen, fand abends ein bemerkenswertes Konzert statt, das mit "Sweet Georgia Brown" endete, eine Zugabe, die die Band nur ein einziges Mal während der Tournee spielte. Erwin Renner, der den großen Konzertmitschnitt in Frankfurt organisieren sollte, war aus Hamburg gekommen, um sich einen Eindruck von der Band zu machen und Kameramann Ulli hatte die Gelegenheit genutzt, um mit mir nochmals ein paar Einstellungen für den Live-Mitschnitt zu besprechen.
Wir erwarteten den Rest unseres Teams tags darauf in Traunstein, in der Nähe des Chiemsees, wo wir neben Konzertaufnahmen und einigen atmosphärischen Bildern auch ein Gespräch mit John Sheahan vor der Alpenkulisse geplant hatten.

Traunstein / Chiemgauhalle
Als wir am frühen Abend in der Chiemgauhalle ankamen und mit unseren Dreharbeiten begannen, spielte John im Umkleideraum gerade ein barockes Stück auf der Geige und Eamonn tanzte dazu, nur mit einer dunkelblauen Unterhose und seinem frisch gebügelten rosa Hemd bekleidet, ähnlich wie der alte Mackie Brown aus Donegal. Zwei Österreicherinnen mit Instrumenten warteten den ganzen Abend lang geduldig auf die Gelegenheit zu einer Session, und das Traunsteiner Publikum machte das Konzert zu einer riesigen Party, indem der lokale Konzertmanager vor der zweiten Zugabe einen Kasten Bier als Geschenk auf die Bühne stellte.
Am nächsten Morgen fuhren wir mit John Sheahan zu einem alten Friedhof außerhalb der Stadt und fanden es durchaus nicht pietätlos, am Rande der Grabstätten auf einer Mauer zu sitzen und John ein paar Schuhplattler und Reels auf der Tinwhistle spielen zu lassen. "Ich höre viel klassische Musik, insbesondere Bach und komponiere gerne Stücke im barocken Stil. Ein solches Stück habe ich etwa vor einem Jahr geschrieben und ein Bekannter aus Hannover hat ihm den Titel gegeben: 'Among friends'.
John erzählte mir dann die bekannte Geschichte seines Zusammentreffens mit den anderen Dubliners und dass er eigentlich nie formal in die Band aufgenommen worden war und spielte dann eine folkloristische deutsche Melodie auf der Tinwhistle. Irgendein Hund schien von den hohen Tönen irritiert zu sein und bellte unentwegt, so dass sich das Gespräch manchmal ein bisschen schwierig gestaltete. Wir nutzten die Kläffpausen, um über Johns Einstellung zur Musik und seine Gedanken zu den übrigen Bandmitgliedern zu sprechen. Mit der ganzen Routine eines Mannes, der Auftritte gewohnt ist, erzählte John druckreife Anekdoten und skurrile Geschichten aus der Karriere der Band: "Barney zum Beispiel ist ein Unikum. Er ist nicht nur ein begnadeter Banjospieler, der die Musik im Blut hat. Es gibt so viele Geschichten über ihn, die wir 'Barneyismus' nennen, dass ich gar nicht recht weiß, welche ich erzählen soll. Aber eine finde ich besonders witzig: Wir schauten einmal aus einem Hotelzimmer raus und sahen einen Wagen unter uns, der wie es schien, in die Hotelwand rein gefahren sein musste. Barney meinte, dass dies wohl eine 'obstacle confusion' sein müsse. Ich sagte zu ihm: Du meinst bestimmt 'optical illusion'. Nein, sagte er, der Fahrer hat das Hindernis übersehen, weil er verwirrt war, deshalb also 'obstacle confusion'. So ist Barney nun mal, er hat seine eigene Sicht der Dinge." John lachte. Er hatte offensichtlich so viel Gefallen an seinem "Barneyismus" gefunden, dass ihm noch ein paar weitere einfielen und nur das energische "Stop" des Kameramanns ihn bremsen konnte. "Ende des Videobandes", sagte Uli lakonisch, "wir müssen ein Neues einlegen." Wolfgang Rösig, unser Tontechniker meinte, dass die Zeit schon weit vorangeschritten sei und dass der Weg nach München noch vor uns liege. Also beendeten wir unser amüsantes Gespräch und ließen den Toten ihre verdiente Ruhe. Dann machten wir uns auf nach München, wo am Abend das Konzert im Zirkus Krone stattfinden sollte.

München / Zirkus Krone
Die Fans im "Dubliner", einem Irish Pub mitten in München, warten voller Spannung auf die heiß ersehnten Gäste. Das Konzert im Zirkus Krone war - wie immer - sehr stimmungsvoll gewesen und eine Kolonie irischer Fans war Fahnen schwingend und laut mitsingend quer durch den ganzen Zirkussaal getobt. Danach wurde Backstage fast nur noch irischer Dialekt gesprochen und die Musiker zur nächtlichen Session in die Kneipe eingeladen. Ronnie hatte sich - wie üblich - schon früh aus dem Staub gemacht. Kurz vorher hatte ich ihn noch Bronchien zerreißend husten gehört und angemerkt, dass er wohl zu viele Zigarren rauche. Ronnie hatte den Zigarrenstummel aus dem Mund genommen, sich zu mir umgedreht und gemeint: "Wenn ich Dich nicht so gut leiden könnte, hätte ich Dir jetzt eine sehr smarte Antwort gegeben !" Dann war er lachend mit seinem wartenden Taxi abgerauscht.
Im Irish Pub hat sich das Kommen der Dubliners schnell herum gesprochen. Innerhalb weniger Minuten ist die Kneipe brechend voll. Einige junge Iren spielen schnelle Reels und heizen die Stimmung an. Dann kommen John, Eamonn und Seán. Renée, der holländische Lichttechniker, ist auch dabei und in seinem Schlepptau kommt Barney unter dem Applaus der Fans in die Kneipe hereingestolpert. Er hat sein Banjo mitgebracht und setzt sich sofort zu den jungen Musikern. Mit einigen bekannten Reels und Jigs findet er sich schnell in die Geschwindigkeit der jungen Musiker ein und man kann sehen, dass es ihm Spaß macht. Als er "Boulavogue" auf dem Banjo spielt, ist es in der ganzen Kneipe, in der kurz zuvor noch ein Höllenlärm geherrscht hat, minutenlang mucksmäuschenstill. Die Nacht ist wieder mal viel zu schade zum Schlafen und so goutieren wir gerade mal drei Stunden die Hotelbetten, bevor es am nächsten Morgen nach dem Frühstück in Richtung Innenstadt geht.
Wir haben einen Dreh mit den Musikern im Hofbräuhaus geplant und ein Gespräch mit Barney McKenna. Gegen Mittag sind wir dort, bauen das Licht auf und warten. Wir sind gegen ein Uhr mit den Musikern verabredet, und alle haben gesagt, dass sie ganz bestimmt kommen. Michael Cropp ist schon etwas früher da, und meint mit hintergründigem Humor, dass man einem Iren niemals "gegen ein Uhr" sagen dürfe, sondern immer nur "punkt Eins", am besten sogar "viertel vor Eins", damit sicher ist, dass er auch um ein Uhr da ist. Ich bestelle eine bayrische Leberknödelsuppe und ein Maß Bier und genieße in tiefen Zügen die Zeit, von der es an diesem Nachmittag eine Unmenge zu geben scheint. Die fünf losgelassenen Bärte kommen erst gegen halb drei Uhr an und haben einen Riesenhunger. Barney bestellt sich zwei Liter Wasser und ist schon bald zu einem Gespräch über bayrische Volksmusik bereit. Eine Lederhosenkapelle spielt Evergreens und Barney erzählt und erzählt und erzählt. Ich verstehe nichts. Nicht weil ich Barney nicht verstehen kann (was manchmal nicht ganz einfach ist), sondern weil der Lärm im Hofbräuhaus jede Verständigung verunmöglicht. Ich beuge mich ganz weit über den Tisch vor, um überhaupt etwas zu hören und breche dann das Ganze ab, weil es unter diesen Bedingungen keinen Sinn macht, weiterzureden. Barney nimmt sein Melodeon aus einer Plastiktüte und spielt "The Job of Journeywork". John holt seine Tinwhistle aus der Tasche und flötet einen Reel, in den Barney einige Takte später mit dem Banjo einsteigt. Ich nehme zwei Gabeln und "löffle" damit den Takt. Die Hobräuhaus-Besucher klatschen freundlich Beifall. Dann setzt die Lederhosenband wieder ein und mit dem Kaiserwalzer geht es einige Minuten später hinaus auf die Autobahn nach Augsburg, wo am Abend das nächste Konzert sein wird.

Augsburg / Stadthalle
Wenn es einen Preis für gut aufgestellte, bis an den Rand gefüllte Pints of Guinness geben würde, dann hätten ihn die Organisatoren des Augsburger Konzerts verdient. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Da stehen mindestens 250 gefüllte Gläser des schwarzen Bieres in Reih und Glied und warten auf die Pausenglocke. Als sie ertönt, strömen einige hundert durstige Kehlen auf die Tische zu und machen sich über die Gläser her. Im Backstage-Raum wird Barney von zwei ehemaligen DDR-Soldaten an eine Situation erinnert, als sie vor der Grenzöffnung heimlich durch ein Kellerfenster in die Backstage-Räume geklettert waren und mit ihm eine Mandolinen-Session erlebt hatten, aber Barney kann sich nicht daran erinnern. Brav verteilt er Autogramme an die Unentwegten und lässt sich in allen möglichen Posen fotografieren. Ich spendiere eine Runde Grappa, weil es der letzte gemeinsame Abend vor der Tourneepause ist und muss feststellen, dass Iren zwar gerne Whiskey trinken, aber bei Grappa nur mit Mühe ihre Gesichtsmuskulatur unter Kontrolle halten können. Mit dieser Erkenntnis verabschieden wir uns und wünschen uns gegenseitig eine gute Reise. Ich bin froh, ein paar Tage ausschlafen zu können, bevor der große Live-Mitschnitt in Frankfurt stattfinden wird. Auf der Rückfahrt von Süddeutschland in den kühlen Norden dümpele ich auf dem Rücksitz des Busses im Halbschlaf und fühle irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit, dass mich die fünf Bärte auch in der Tourneepause nicht so schnell loslassen werden ...

Frankfurt / Alte Oper
Am 19. November fand in Frankfurt der große Live-Mitschnitt mit sieben Kameras, 35-Mann-Team und mehreren Technikwagen statt, für mich einer der Höhepunkte der Tournee. Erwin Renner hatte nach vielem Hin- und Her mit den Organisatoren der Alten Oper alles hervorragend vorbereitet, doch die Zeit zum Aufbau war - wie zu befürchten war - viel zu knapp. Dass alles trotzdem klappte, war schon ein kleines Wunder. Zu diesem Wunder kam noch ein ganz besonderes Erlebnis, mit dem mich Erwin Renner überraschte: Mitten in den hektischen Vorbereitungen holte er mich aus dem Ü-Wagen für die Bildtechnik und sagte, dass er für den guten Sound einen besonderen Audiotechnik-Wagen bestellt habe. Dann führte er mich zum Seiteneingang der „Alten Oper“, wo gerade ein gigantischer schwarzer Truck mit vier übergroßen weißen Buchstaben eines japanischen Weltunternehmens vorfuhr. Heraus stieg ein langhaariger, leicht übergewichtiger Freak, der sich mit „Ich bin der Harry Braun aus Köln und mache hier den guten Ton!“ vorstellte. Damit betätigte er einen Druckknopf auf der Rückseite, und der Truck verbreiterte sich hydraulisch auf fast das Doppelte. Wir stiegen hinein und ich sah ein gewaltiges Mischpult mit über hundert Reglern, ungläubig staunend wie ein Junge, der zum ersten Mal an Bord eines Raumschiffs geführt wird. Im vorderen Teil des Trucks war ein holzgetäfelter Raum, in dem uns Harry Braun zuerst einmal auf ein frisch gezapftes Kölsch vom Fass einlud. Ich war so von den Socken, dass ich mein Kölsch viel zu schnell runterstürzte, mich dabei verschluckte und heftig husten musste. Harry lachte herzhaft und klopfte mir auf den Rücken: „Na, wohl nix Gutes gewohnt, was?“ Ich schüttelte den Kopf und versuchte ihm klar zu machen, dass ich in meiner Gummersbacher Jugend mehr als das eine oder andere Kölsch getrunken hatte, doch er war bereits damit beschäftigt, ein dickes Kabel seitlich aus dem Truck zu ziehen und an die Techniker der „Alten Oper“ weiter zu geben. „So, das war’s schon!“ sagte er lapidar, „und nun hören wir mal, wie das Ganze sich anhört.“ Frank Dostal, der in seinem Musikerleben auch schon einiges erlebt hat, schien ebenfalls stark beeindruckt und setzte sich ein bisschen ehrfürchtig zu den Audiotechnikern des Trucks, um die Regie für den Sound zu übernehmen.
Ich ging zurück in unseren Ü-Wagen, der mir imVergleich zu dem Truck fast wie ein Campingwagen vorkam, und befasste mich wieder mit den Instruktionen an die Kameraleute, die sich inzwischen ihren Platz an der Bühne gesucht hatten. Kurz darauf waren wir soweit, und das Konzert konnte beginnen.     

Live – Liver - Livest
Wir sind fast zu gut vorbereitet. Ich hatte für jedes Stück einen detaillierten Kameraplan vor mir liegen, doch schon noch zwei Stücken lege ich ihn beiseite und führe Bildregie "by heart". Kameramann Ulli Scholz, dieses Mal als Live-Mixer tätig, mischt die schön gestalteten Bilder der Kameraleute zu eigenen Kompositionen zusammen und trotz des Ausfalls einer Bühnenkamera bei "Whiskey In The Jar" (ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch) sind wir mit unserer Arbeit zuletzt hoch zufrieden. Die „Dubliners“ sind nach ihrer mehrtätigen Pause von den Strapazen der ersten Tourneehälfte gut erholt nach Frankfurt gekommen, aber an diesem Abend seltsamerweise auch etwas nervös. So viele Kameras und das notwendige zusätzliche Licht scheinen auch sie nicht unberührt zu lassen. Barney McKenna spielt bei seinem Solo sehr konzentriert und virtuos, aber längst nicht so schnell wie in München. Dennoch: der "Mason's Apron" wird zum optischen Höhepunkt des gesamten Live-Mitschnitt. Bei "Song For Ireland" hat Seán Cannon zu seinem Leidwesen zwar einen Kloß im Hals, aber der lockert sich glücklicherweise im späteren Verlauf des Konzerts. Bei "Oro Sé Do 'Bheatha Bhaile" singt der Dubliners-Chor den Refrain irgendwo zwischen Dur und Moll, und wir frotzeln im engen Ü-Wagen, dass selbst so erfahrene Profis wie die Dubliners manchmal eben auch ein bisschen daneben liegen. Die Stimmung in den ausverkauften Rängen der mit dreitausend Besuchern randvoll gefüllten Alten Oper indes ist fantastisch, und der gediegene Konzertsaal wird bei "Seven Drunken Nights" zu einem riesigen Irish Pub. Zwei der irischen Fans wollen sogar die Bühne stürmen, doch Ronnie schickt sie mit einigen "smarten" Worten wieder zurück in die Reihe, während John den Zwischenruf eines Trunkenbolds damit kommentiert, dass der Rufer wohl schon in der "siebten Nacht" sei. Backstage ist nach dem Konzert die große internationale Familie der Dubliners versammelt und feiert bei einem üppigen von Manuela Kohns lecker zubereiteten kalten Buffet einen saftigen Konzertausklang.

Nach dem Frankfurt-Konzert war mir klar, dass wir mehr als "die halbe Miete" der Dreharbeiten im Kasten hatten. Die Pflicht war geschafft, jetzt konnte die Kür beginnen.

Bochum / Bergbaumuseum
Unser Atem entlässt kleine Wölkchen in die kühle Luft des Bergwerkstollens. Wir sind mit Eamonn Campbell unter Tage, im Bochumer Bergbaumuseum. Eamonn erzählt mir die Geschichte eines Iren namens Mulvanny, der Mitte im vergangenen Jahrhundert zusammen mit einem englischen Ingenieur ins Ruhrgebiet kam und dort maßgeblich an der technologischen Entwicklung des gesamten Bergbaus beteiligt war. "Es ist schon komisch", sagt Eamonn, während wir auf eine der gut erhaltenen Loren zugehen, "ein Paddy hat mit all dem hier begonnen !" Eamonn Campbell erzählt über seine musikalische Laufbahn: "Besonders beeindruckend war ein Konzert mit einer Rock-'n-Roll-Band, mit der ich damals unterwegs war. Plötzlich schwankte neben mir ein Teil der Bühne und das ganze Schlagzeug mitsamt dem Drummer kippte wie in Zeitlupe über den Bühnenrand, während ich einfach weiter dastand und seelenruhig meine Gitarrenriffs spielte." Eamonn ist der Arrangeur bei den Dubliners, "auch wenn man es ihm nicht ansieht", wie John es ausdrückt, "aber er kann komplexe Arrangements ohne große Probleme schreiben und auch entsprechend produzieren." "Ich habe einmal sieben von mir produzierte Songs zur gleichen Zeit in den englischen Top-100 platziert", sagt Eamonn nicht ohne Stolz, "das hat noch kein irischer Arrangeur geschafft. Aber mit den Dubliners zu spielen, ist trotzdem das Größte in meinem Leben." Eamonns rauchige Stimme wird ganz leise, als er vom Sterben seines Freundes Luke Kelly erzählt, und dann sagt er mit einem Mal. "Ich spiele Euch später ein Stück vor - hier unten im Stollen, wo Luke sich wie im Paradies gefühlt hätte - und das ist meine ganz persönliche Widmung an ihn." Als wir unser Gespräch beendet haben, stimmt Eamonn kurz seine Gitarre und dann singt er seine ureigene Version von "Dirty Old Town", wie sie zuvor nie jemand gehört hat. Als wir den Stollen verlassen, ist er sehr schweigsam, bleibt ein paar Schritte hinter mir und wischt sich in einem Moment, in dem er sich unbeobachtet fühlt, ein paar Tränen aus den Augen. Die Fahrt nach Bielefeld verschläft Eamonn in unserem Bus, den Kopf an die Scheibe gedrückt. Die Nacht vorher war ziemlich kurz gewesen: eine Session im Irish Pub in Bochum-Langendreher und die Party, die bis früh in den Morgen gedauert hat, fordern ihren Tribut.

Bielefeld / PC 69
In Bielefeld, im „PC 69“, stehen die Fans dicht gedrängt vor der Bühne. "In Bielefeld ist immer der Teufel los", sagt Michael Cropp, "unter drei Zugaben wird die Band nie weggelassen." Uli, Wolfgang und Fabian quetschen sich mit Kamera, Mikrofon und 100-Watt-Strahler durch die Massen. Fabian wird von ein paar angetrunkenen Fans angepöbelt, die ihm Schläge androhen für den Fall, dass er "die Funzel noch mal anmacht". Er ist froh, in der Konzertpause von der Last dieser Drohung befreit zu werden, indem ich selbst die Leuchte von der Bühne aus ins Publikum richte, vor allem in Richtung der halbstarken Möchtegern-Schwarzeneggers, denen es - zu meinem Glück- unmöglich ist, einen Weg durch die dicht gedrängten Reihen zu finden. Barney ist an diesem Tag in Superform und verlängert sein Banjo-Solo um ein ganzes Stück; Eamonn "rockt" an diesem Tag besonders locker und seine Chuck-Berry-Imitation bei "The Irish Rover" wird zu einem frenetisch bejubelten Höhepunkt des Konzerts.

Nach dem Konzert im „PC 69“ haben wir zwei Tage Pause und ich nutze diese, um mir noch ein paar Gedanken über die restlichen Motive und Gespräche zu machen, die noch fehlen. Bilder und Töne sind nach dem ersten Sichten sehr gut geworden und schon jetzt haben wir reichlich "harvest home" gebracht, den größten Tei der Ernte eingefahren ...

Köln / Philharmonie
Seán Cannon steht mit seiner Gitarre am Rheinufer und singt deutsche Volkslieder: "Muss I denn zum Städele hinaus" und "Lustig ist das Zigeunerleben". Im Hintergrund ist der Kölner Dom zu sehen. Das Konzert in der Philharmonie war - wie jedes Konzert - ein großer Erfolg und wir sind nach einer weiteren kurzen Nacht, in der Barney in einer Kellerkneipe in Domsnähe mit einer drallen irischen Schönheit ein Tänzchen aufgeführt hat, am nächsten Morgen zum Rheinufer gefahren. Seán erzählt von seiner Zeit in Deutschland, bevor er seine Karriere als Folksänger in England begann. Er liest gerade Plato und seine deutschen Sprachkenntnisse sind erstaunlich. Mit witzigen Wortspielen gibt er auch bei den Konzerten den Stücken immer eine besondere Note: "Dieser Song ("The Wild Rover") ist auf der ganzen Welt wohlbekannt, auch in Frankfurt." Seán macht sich viele Gedanken über traditionelle Musik und er kennt mindestens zwei oder drei Versionen der meisten Lieder. Auf den ersten Blick wirkt er ein wenig schüchtern, doch wenn man ihn näher kennen lernt, entpuppt er sich als wortreicher Erzähler mit einem Hang zu dezentem schwarzen Humor. Seán kam zu den Dubliners als Luke Kelly krank war und er tourte mit ihm einen Sommer lang. "Es war eine wundervolle Erfahrung, mit so einem magischen Sänger zusammen Musik zu machen. Anfangs versuchte ich Luke zu imitieren. Aber das war unmöglich, weil seine Stimme so unerhört kraftvoll war. Und so zu singen wie Ronnie, hätte meine Stimme ruiniert. Also musste ich meinen eigenen Stil finden. Heute interpretiere ich die Songs auf meine Weise, und das ist mein kleiner Beitrag, um an Luke Kelly zu erinnern."

Am frühen Nachmittag geht es weiter nach Cloppenburg. An diesem Tag haben Seán und Eamonn gemeinsam Geburtstag und John inszeniert zusammen mit dem Publikum in der Stadthalle ein Geburtstagsständchen für die Beiden.

Bremen / Die Glocke
"Ei was, du Rotkopf", sagte der Esel (zum Hahn), "zieh' lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall: Du hast eine gute Stimme, und wenn wir zusammenmusizieren, so muss es eine Art haben."
So wie die Bremer Stadtmusikanten im Märchen nach Bremen kamen, so ähnlich bin ich vor Jahren auch in die Hansestadt gelangt.
Die fünf Musikanten aus Dublin waren nach einem Bummel über den Bremer Weihnachtsmarkt in die Böttcherstraße gegangen, und Barney hatte dort sein Melodeon ausgepackt. "The Job Of Journeywork", das Stück, das uns bei der Tournee als eine Art "Roadsong" begleitete und der Hornpipe "Harvest Home" animierte Eamonn, Barneys Hut herunter zu lupfen und die Vorbeigehenden um eine milde Gabe zu bitten. Eine Stunde zuvor war ich mit Barney McKenna im Ratskeller gewesen, und er hatte mir so einiges erzählt: "Einige Reels tendieren dazu, immer schneller zu werden", sagt er auf meine Frage, "warum er bei seinem Solo manchmal so unglaublich beschleunige, "aber Barney liebt eigentlich die langsamen Reels lieber, die wir die 'lazy reels' nennen.“ Barney liebt es, manchmal von sich in der dritten Person zu sprechen. „Ich weiß nicht, wie ich manche Dinge auf dem Banjo mache, es kommt irgendwie über mich. Es muss wohl an der Tradition liegen, in der ich aufgewachsen bin. Meine ganze Familie macht Musik, meine Großmutter hat sogar Opernarien gesungen." Er singt einen Song, den er von seiner Großmutter gelernt hat und lässt dem Lied einen Reel folgen, den er auf typisch irische Weise "liltet". "Eigentlich sollte ich in der Militärkapelle spielen, so jedenfalls wollte es mein Vater. Aber da ich eine Brille tragen musste, wurde ich nicht zur Armee zugelassen und so wurde es nichts mit der Militärmusik. Ich habe dann mit der traditionellen Musik angefangen und immer weiter gemacht. Ich glaube, dass die irische Musik einen eigenen eingebauten Rhythmus hat, der nicht sonderlich durch artfremde Akkorde und Offbeats verstärkt werden muss. Mit einem einzigen Instrument kannst du wundervoll subtile Rhythmen spielen und zu viele Instrumente machen das wieder kaputt." Barney ist neben Seán der Traditionalist in der Gruppe. Wir trinken Weinschorle und er prostet mir zu. "Slainté - Gesundheit und ein langes Leben und: Land ohne Miete für Dich", sagt er in Gälisch. Als ich versuche, die gälischen Worte nachzusprechen, erteilt mir Barney eine Kurzlektion in Gälischer Sprache. Barney spricht in einer sehr bildhaften, assoziativen Sprache, und er geht oft lange Umwege, um wieder dort anzukommen, von wo er ausgegangen ist. Als Mann des Bildes ist mir diese Art sehr vertraut und so verstehe ich ihn an diesem Nachmittag- zu Ronnie Drews höchstem Erstaunen - fast vollständig. "Dann verstehst Du mehr als ich", sagt Ronnie, "Barney spricht oft in Rätseln und selbst wir können ihn manchmal kaum begreifen." Barney erzählt mir von Howth, dem kleinen Ort im Osten der Dublin Bay und von seinem Haus, in dem er schon seit Jahren lebt. "Wenn Du nach Dublin zum Filmen kommst, fahren wir mit meinem Boot hinaus aufs Meer. Dann zeige ich dir die besten Fischgründe und Sam, den Seehund, der da in den Felsen lebt." Wir prosten uns nochmals zu. Barney hebt sein Glas und sagt: "Es gibt hier im Norddeutschen einen Trinkspruch, den ich sehr mag: Auf alles was wir lieben - to all what we love!"

Im "Hegarty's", einem Irish Pub in Bremen, sind an diesem Nachmittag eine Menge Fans und Musiker versammelt, um zu Ehren der Dubliners eine spontane Session zu veranstalten. Wir haben mittlerweile den irischen Rhythmus angenommen und kommen ungefähr zwei Stunden zu spät, was der Stimmung aber keinen Abbruch tut. Nachdem die Dubliners eine verspätetes Irish Breakfast serviert bekommen, und die "local heroes" aus Bremen mit Jigs und Reels die Stimmung angeheizt haben, steigen John, Barney, Eamonn und Seán in die Session ein und es entwickelt sich innerhalb kürzester Zeit die wohl spannendste und gleichzeitig auch kürzeste Musiksession während der gesamten Tournee. Mit "Farewell to Ireland", einem meiner Lieblingsreels, endet das Ganze, und wir entführen die Dubliners ganz schnell aus dem "Hegarty's", weil das Konzert in der Glocke schon in Kürze beginnen soll.

Nach dem Konzert wird wieder der obligatorische Korb mit Weihnachtsgeschenken überreicht und die alten Fotos betrachtet, zu denen einige neue vom letzten Jahr hinzu gekommen sind. Im Fischrestaurant, wo wir zuletzt landen, wird noch ein bisschen Musik gemacht und eine wohl bekannte, begeisterte Frau klatscht völlig selbstvergessen gegen den Rhythmus der Reels und Jigs an, die John, Barney und Tina McLoughlin sich gegenseitig zuspielen – so wie im Jahr zuvor.

Hamburg / CCH
Am nächsten Tag fahren wir schon früh nach Hamburg. Wir haben Ronnie Drew vom Hotel abgeholt und wollen spätestens um elf Uhr im Hamburger Hafen sein, um mit Ronnie eine Hafenrundfahrt zu machen. Wir haben zu diesem Zweck eine Barkasse gemietet und als wir in Hamburg ankommen, herrscht dichter Nebel. Es ist empfindlich kalt und Ronnies Hände sind noch so steif, dass er sich erstmal den Kaffee über den hellen Mantel schüttet. Der Kapitän der "Zukunft II" begrüßt uns und wir fahren langsam in die alte Speicherstadt. Ronnie erzählt von seinem musikalischen Werdegang und den frühen Anfängen. Er hat seine Brille, die er normalerweise immer tragen muss, abgelegt und seine hellen, grünblauen Augen strahlen so tiefgründig wie die irische See. "Ich habe keine ausgebildete Stimme" beginnt Ronnie, "aber ich habe eine gute Erzählerstimme.  Dominic Behan hat mich stark beeinflusst und John Molloy war einer der ersten, der meine musikalische Laufbahn gefördert hat. Wir haben damals im O'Donoghue's Pub eine ganze Menge bewegt, glaube ich." Ronnie erzählt von den schon bekannten und gern gehörten Anfängen der Band, er lässt "those early days in Dublin" wieder auferstehen und steigert sich mit wachsender Begeisterung in die komplette Dubliners-Story hinein. Das über dreißig jährige Buch der Band ist aufgeschlagen worden und sitzt in der Gestalt dieses kleinen Mannes vor mir, der manchmal so unheimlich und kauzig wirkt, mir aber während der Tournee immer mehr ans Herz gewachsen ist. Ich brauche keine Fragen mehr zu stellen. Ronnie erzählt wie aus einem Guss: über irische Musik, über das irische Revival, welches nie stattfand, weil die Musik immer da war. Er charakterisiert liebevoll die anderen Musiker und berichtet über die 'Ronnie Drew Group' mit der alles angefangen hat. Als ich ihm über eine Fernsehshow aus den frühen 60er Jahren  im irischen Fernsehen erzähle, ist er auf eine nachdenkliche Art belustigt. Ich hatte nämlich in alten Archivaufnahmen gesehen, wie die damals noch recht unbekannten Musiker ganz angespannt auf ihren Stühlen gesessen hatten, weil sie in Kürze aufspielen sollten. Dann waren sie vor lauter Aufregung viel zu früh von ihren Sitzen hoch gesprungen und mussten vom Moderator der Sendung mit Nachdruck auf ihre Plätze zurück geschickt werden. "Ja, wir waren damals sehr vorlaut und haben uns immer in den Mittelpunkt gespielt", sagt Ronnie schmunzelnd und fügt hinzu: "Aber das war auch eine aufregende Zeit. Es war die Zeit, wo die irische Musik aus den Clubs hinaus in die Kneipen und dann nach ganz Europa transportiert wurde. Und wir können uns glücklich schätzen, dass wir dabei mithelfen konnten." Respektvoll beschreibt Ronnie Drew seinen alten, 1987 verstorbenen Freund Ciaran Bourke: "Ciaran war ganz tief in der irischen Kultur und Mythologie verwurzelt. Er wusste alles und war wie ein Lexikon, in dem man nach Belieben nachschlagen kann. Wir haben ihn auch in den Jahren seiner schweren Krankheit immer wieder besucht, und er hat uns viel geholfen. Wir vermissen ihn wie einen Bruder. Luke war ein Sänger mit einer außerordentlichen Stimme und einem ziemlich trockenen Humor. Als er einmal als Schauspieler bei einem Bühnenstück mitwirkte, fielen ihm zwei schlechte Zähne beim Monolog aus dem Mund. Er hat sie einfach vom Holzboden aufgehoben und wieder zurück in den Mund gesteckt. So war Luke. Einfach und unkompliziert." Ich fordere Ronnie auf, ein paar Lieder zu singen. Er überlegt kurz und dann singt er "The woman From Wexford" und "Dicey Reilly". Als wir am Ende unserer Hafenrundfahrt angekommen sind, erfüllen wir uns einen lang gehegten Wunsch: Wolfgang, der Tontechniker, Ronnie in der Mitte sitzend und ich links daneben, singen gemeinsam: 'Weila, Weila", nur für uns, nur fürs Archiv.
Im Anschluss an unsere Barkassenfahrt essen wir eine Kleinigkeit im "Finnegan's Wake", einem Irish Pub in der Nähe des Rathauses, und Ronnie lässt es sich nicht nehmen, für uns am Tresen stehend "Finnegan's Wake" zu singen. Man kann sich gut vorstellen, wie aufgeregt die jungen Iren an diesem Nachmittag waren, die gerade dort zu arbeiten hatten. Als wir gegen vier Uhr mit unseren Dreharbeiten fertig sind, weiß ich, dass wir den Film "im Kasten haben". Ronnie macht noch einige Weihnachtseinkäufe und dann bringen wir ihn zurück ins Hotel.

Das Konzert im Hamburger Congress-Centrum wurde zum krönenden Abschluss der Deutschlandtournee: über fünfhundert begeisterte Fans tanzten vor der Bühne und sangen aus voller Brust die Lieder mit.
Bei der traditionellen Session in Karsten Jahnkes Haus, im Anschluss an das letzte Konzert, spielten Tina und ihre Freundin Heike aus Hamburg mit John und Barney zusammen Jigs, Reels und Slow Airs. Barney gab sich zuletzt mit einigen Gläsern Bier zuviel im Kopf den Rest. Er hatte sie sich redlich verdient. Mit "Among friends" im Ohr fuhren wir gegen Morgen zurück ins Hotel und versuchten, noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.
Am nächsten Tag begleiteten wir die fünf Barden zum Flughafen Bild: Dubliner am Flughafen Hamburgund flöteten ihnen unsere Version von "Among Friends" ins Ohr, inklusive einer selbst gedichteten, gesungen Strophe von Fabian Becker, unserem Kamera-Assistenten. Barney bedankte sich auf seine Art. Im Kopf noch den schweren "hangover" der vergangenen Nacht, holte er sein Melodeon aus der Plastiktüte und spielte "The Job Of Journeywork". Dann zeigte er mir noch ein altes Foto von seinem Boot
 Bild: Barney zeigt sein Boot
und ging mit John zur Passkontrolle. Das Flugzeug verschwand im grauen Hamburger Nachmittagshimmel - und "tschüs"!

Ich nahm noch am gleichen Abend den D-Zug-Schlafwagen nach Zermatt in der Schweiz, um bei strahlendem Winterwetter unterm Matterhorn für ein paar Tage auszuschlafen, spazieren zu gehen und in einer fremden Umgebung die fünf Bärte eine Zeitlang hinter mir zurückzulassen. Ich hatte allerdings eine Audio-Cassette mit dem Frankfurter Live-Mitschnitt bei mir und konnte es nicht lassen, mir abends im Bett beim Blick auf die dunkle Silhouette des Berges "Nora", "Chill Chais" oder "The Rocky Road To Dublin" anzuhören.

Winter 1994 – Frühling 1995
In den darauf folgenden Wochen sichteten wir das Material und ließen die Tournee nochmals Revue passieren. Wir hatten ungefähr 60 Stunden Bild- und Tonmaterial vom Feinsten, und der schmerzhafte Prozess der Trennung von lieb gewonnenen Aufnahmen stand bevor. Die Dreharbeiten für die Exposition und den Schluss des Films, die im Frühling in Irland stattfinden sollten, mussten noch organisiert werden und bis dahin - so hatte ich es mir vorgenommen - wollte ich den Rohschnitt fertig gestellt haben.
Ich hatte während der fast sechswöchigen Tournee immer wieder Musik mit den Dubliners gemacht, jedenfalls so weit die Dreharbeiten es erlaubten. Wir hatten über Musik und unsere musikalischen Vorlieben gesprochen, und dabei war die Zeit wie im Fluge verrauscht. Und jetzt sollte das alles auf ca. eineinhalb Stunden zusammen gefasst werden? Ein Berg von Bildern flimmerte vor mir und wollte sortiert und strukturiert werden. 
Und dabei gab es Einiges, das mir am Herzen lag: Es gibt so viele Klischees, die der Band schon seit mehreren Jahrzehnten voraus eilen, und die sie als "bärtige, raue Gesellen“ kennzeichnen, „die irische Gassenhauer singen und eine Menge Whiskey und Bier trinken". Die Klischees haben - wie alle Klischees - einen wahren Kern: Ronnie Drew, Barney McKenna, John Sheahn, Seán Cannon und Eamonn Campbell haben Bärte und am liebsten möchte man mit ihnen auf Kaperfahrt gehen; sie sind auch auf eine sympathische Art rau; sie haben Gassenhauer wie "The Wild Rover", "Whiskey in the Jar" und "Seven Drunken Nights" weltbekannt gemacht und sie haben in der Zeit ihrer musikalischen Laufbahn sicherlich eine Menge Whiskey und Bier getrunken. Aber hinter all den Klischees befinden sich, wie Barney McKenna es in unserem Gespräch ausgedrückt hat, "sanfte Herzen aus Gold“ und äußerst empfindsame Seelen. Dieses und vieles mehr wollte ich unbedingt in meinem Film darstellen.
Ich habe die fünf Musiker als hochkarätige Einzelkönner mit profundem theoretischem Wissen und außergewöhnlichem Spielvermögen kennen gelernt. Dass sie dabei nicht nur Irish Folk im Kopf haben, hat mich besonders beeindruckt. Insbesondere Ronnie, John und Eamonn, die sich auch mit anderen musikalischen Richtungen beschäftigen und ein breit gefächertes Interesse haben, drücken dies in ihren Gedanken aus.
Wir haben über das Verhältnis von traditioneller Musik und Unterhaltung gesprochen, "entertainment", wie Ronnie es ausdrückt: "Die Leute wollen beim Konzert etwas erleben. Klar, sie kommen auch wegen irischer Musik, weil sie sich an ihre eigenen Irlandreisen erinnern, aber vor allem kommen sie auch, um gute Unterhaltung zu erleben." Eamonn Campbell ergänzt: "Wir haben Spaß an der Musik, das ist das Wesentliche." Und John Sheahan vergleicht die Musik sogar mit dem Jazz: "Jedes Stück ist für mich eine Art Neuschöpfung, bei der ich immer wieder variiere und improvisiere, sogar bei Stücken wie 'The Black Velvet Band' oder 'The Wild Rover'. Das gibt der Sache eine frische Note und macht sie nicht langweilig." Ronnie Drew ist mittlerweile ein bisschen müde geworden vom ständigen Herumreisen und strebt mit seinen 60 Jahren eine neue Karriere als Sänger an: "Ich nehme gerade Stücke für eine neue Solo-Platte auf, und die Arbeit daran macht mir sehr viel Spaß. Mit den Dubliners haben wir eine Party gefeiert, die fast 20 Jahre gedauert hat. Die Party ist auch jetzt noch nicht ganz vorbei, aber wir haben Kinder und ich habe sogar schon Enkelkinder. Trotzdem kommen noch immer eine Menge Leute zu unseren Konzerten und haben ihren Spaß. Aber trotzdem weiß ich bis heute nicht genau, was das Geheimnis unserer Musik ausmacht. Es ist für mich immer noch ein Geheimnis -  aber ich sage: Thank God for it !"

Irland 1995 / Dublin – Glendalough
Bild: Dublin 1995
Im April 1995 sind wir schließlich zu den DUBLINERS nach Irland gefahren. Wir haben John Sheahan in seinem Haus in Mulhuddart beim Geigenduett mit seiner Tochter gefilmt und sind mit Seán Cannon durch die "fair old city" auf der Suche nach Gitarrensaiten gegangen. Seán hat sich einen Satz Saiten in McNeill's Musicshop gekauft, dort, wo Barney McKenna Jahre zuvor sein erstes Tenorbanjo für sechs Pfund erstanden hatte. Wir hatten das Glück, Eamonn Campbell anzutreffen, dessen Frau gerade eine Tochter geboren hatte, und wir sind mit ihm in ein Musikstudio gegangen, wo wir Finbar Furey trafen, der gerade ein neues Stück mit einem englischen Sänger aufgenommen hatte. Wir sind mit Barney McKenna  aufs Meer hinaus- und den Liffey hinaufgefahren und haben ihn am Kaminfeuer beim Musizieren auf dem geliebten Melodeon gefilmt. In einer Ecke stehen Barneys Instrumente herum und ganz oben auf einem Schränkchen liegt das Five-String-Banjo von Luke Kelly.
Bild: Dublin 1995
Wir waren schließlich bei Ronnie Drew und seiner Frau Deidre in Greystones, wo wir ihn gemeinsam mit Sohn, Tochter und Enkelin gefilmt haben und ihn bei einem Spaziergang am Upper Lake in Glendalough begleiteten.
In Glendalough hatte sich nicht viel verändert. Es waren ein paar Touristenbusse da und die Einheimischen begrüßten Ronnie als einen der ihren.
Das Haus von Mrs. Betts, der "Urmutter aller Iren", habe ich nicht wieder gefunden.

Für Ronnie Drew und Barney McKenna – r.i.p.

Bremen, im August 2012

Willie Burger
Autor & Regisseur

Nachtrag:
Liebe Freunde und Fans,
unter www.gaeltacht.de liegt die Broschüre "The Dubliners - 50 Jahre zum Abschied" mit meinem Dubliners-Tagebuch übrigens kostenlos zum Download bereit.
Herzliche Grüße
Willie