THE DUBLINERS in Germany
Tagebuch eines Film-Abenteuers von Willie Burger
Vorworte
Vor
vier Jahren ist Ronnie Drew gestorben. „The Daddy" der legendären
Dubliners erlag nach langer, schwerer Krankheit einem Krebsleiden. Es
gab viele unmittelbare Nachrufe, irische Musiker hatten kurz vor seinem
Tod sogar noch ein „Lied für Ronnie" komponiert.
Im Januar
2012 starb Barney McKenna, „Fisherman" und begnadeter Banjospieler. Von
den ursprünglichen Dubliners ist John Sheahan nun „the last of the old
grey whales" und selbst John gehört eigentlich schon zur „next
generation", wie er mir weiland 1994 beim Gespräch in Traunstein,
Bayern, verriet.
Und in diesem Herbst des Jahres 2012 geben
die Dubliner ihre Abschiedstournee in Deutschland, nach 50 Jahren
Bandgeschichte.
Nun, eine große Weile später, ist es an
meiner Zeit, einige nachgetragene Erinnerungen an jene großen Musiker
zu veröffentlichen, denen ich persönlich begegnen durfte - ein
Geschenk, für das ich sehr dankbar bin.
In meinem Tagebuch,
das vor nunmehr fast vierzehn Jahren bereits als Booklet gedruckt
wurde, habe ich die Erlebnisse während der Dreharbeiten zu meinem
Musikfilm „The Dubliners in Germany" im Jahr 1994 und 1995
festgehalten.
Prolog
"Als
Dokumentarfilmer musst Du zur rechten Zeit am richtigen Ort sein und
die wichtigen Leute treffen, um Ihnen die wesentlichen Fragen zu
stellen."
Dieses Credo gilt nicht nur für Dokumentarfilmer -
es definiert so vieles im Leben.
Wenn ich zurück
blicke, so scheint das Leben manchmal aus einer Verkettung von Zufällen
zu bestehen, die sich zu verschiedenen Zeiten unter völlig
unvorhersehbaren Bedingungen ineinander fügen. Und doch kommt es einem
manchmal so vor, als wären diese Zufälle gar nicht so zufällig, sondern
doch irgendwie vorher bestimmt. Wir werden nie genau wissen, ob wir von
Vorhersehung oder Zufall ist geleitet oder ver-leitet werden. Doch wir
wissen meistens genau, wann die Zeit für etwas Bedeutsames, für etwas
Ungewöhnliches gekommen ist.
Gummersbach / Linus
Mein
Film über die DUBLINERS wäre wohl nie entstanden, wenn ich nicht im
November 1968 als damals 16jähriger mit einigen Freunden ins „Linus",
eine Studentenkneipe in meiner Heimatstadt Gummersbach, gegangen wäre,
in der eine für die damalige Zeit unglaubliche Musik vom Plattenteller
gespielt wurde: Eine Stimme, die "wie Koks unter der Tür knirscht",
sang, oder vielmehr: sie knarrte aus den Lautsprecherboxen und erzählte
in einem Slang, den nur die wirklich Eingeweihten überhaupt verstehen,
über sieben Nächte, die aus einem normalen Ehemann einen vollkommenen
Trottel machen. Unter dem Titel "The Seven Drunken Nights" würde dieser
Song sogar in den englischen Hitparaden herum geistern, meinte der
Ingenieurstudent, der die Kneipe führte. Was das denn um Himmels willen
für eine Musik sei, fragte ich, und er antwortete lapidar: Die
Dubliners, irgendwelche wild gewordenen Iren mit Vollbärten, die man
auf Deutschland losgelassen hat!
Ich hatte vorher nicht viel
von Irland gehört, außer dass die Insel am nordwestlichen Rande von
Europa liegt, dass es dort eine Menge Schafe gibt, wo es ständig regnet
und ab und zu Bomben hoch gehen. Und dass Dublin die Hauptstadt der
Republik Irland ist, wusste ich aus dem Fernsehquiz "Einer wird
gewinnen" mit Hans Joachim Kulenkampff.
Ich selbst war zu
der Zeit eingefleischter Rock 'n Roller, trug mein Haar im Nacken mutig
bis auf den Hemdkragen und gehörte zur Stones-Fraktion, was in jenen
Jahren so etwas wie eine Lebensphilosophie bedeutete. Gegenüber der
Beatles-Welle waren wir über die Zeit resistent geblieben und auch der
Umstand, dass die Stones längst nicht so erfolgreich waren wie die von
uns ungeliebten Liverpooler, konnte dieses Bekenntnis nicht
erschüttern: „You can’t get really no satisfaction, Paul McCartney!"
Und
dann kam plötzlich diese merkwürdige irische Musik daher, die mein
Sonnengeflecht so unmittelbar vibrieren ließ, dass ich vor lauter
innerer Begeisterung anfangs geringschätzig abwinkte, um von meinen
Freunden nicht als Verräter an Mick Jagger & Co. gegeißelt zu
werden. Ich war froh, schon bald wieder zu allgemein akzeptierten
Pink-Floyd-Klängen auf einem Sperrmüllsofa im roten Licht einer
60-Watt-Glühbirne herumzulungern und den Studentinnen hinterher zu
gaffen. Während sie ihre am Hintern eng anliegenden und an den Knöcheln
weit ausladenden Shake- und Letkiss-Hosen in der Kneipe ausstellten,
und ich von einer Karriere als Rocksänger träumte, mit der ich die
Herzen der Angebeteten zu erobern hoffte, knarrte die Stimme zum x-ten
Mal die "Seven Drunken Nights" aus den Lautsprechern. Ein Freund, der
mir just in dem Moment einen Zug aus einer merkwürdig großen, selbst
gedrehten, tütenartigen Zigarette gestattete, machte irgendeine
abfällige Bemerkung, während ich mir die Lunge aus dem Hals hustete.
Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, sah ich, wie Studenten und
Studentinnen im Rhythmus des Liedes mitklatschten und - wie es schien -
noch mehr Bier tranken als sonst üblich.
In den nächsten
Tagen wurmte eine Melodie meine Ohren, aber die Erinnerung an die
biederen Ingenieurstudenten, die mitgesungen hatten und zudem auch noch
erfolgreicher bei den Mädchen gewesen waren, verdarben die vollkommene
Identifikation mit der Musik der DUBLINERS. Stattdessen warf ich die
"silly old fools" in den Abfalleimer meiner eigenen jugendlichen
Überheblichkeit.
Siegen
1971
Die Jahre vergingen und ich war inzwischen
selbst Student geworden. Zu den Stones waren Gruppen wie Tangerine
Dream, Ashra Tempel, Popul Vuh und Kraftwerk dazu gekommen, und die
vergeistigte junge Seele suchte zu sphärischen Klängen meditierend nach
neuem Sinn.
Es waren Gruppen wie „Fairport Convention",
„Steeleye Span" und die wirklich unglaubliche „Incredible String Band",
die die Jigs und Reels zuerst in unsere Wohngemeinschaft brachten. Wenn
sich die Kommilitonen zu alternativen Feten versammelten, um Marx und
Engels, Mao und Bakunin einmal zu vergessen, stellten sie sich im Kreis
auf und imaginierten Volksnähe. „Folk Rock" nannten wir die Musik, zu
der sich so wunderbar in Gruppen tanzen ließ. Mit dieser Musik kamen
auch die DUBLINERS wieder zurück, das heißt: sie waren eigentlich nie
weg gewesen! "The Swallow’s Tail Reel" und der "Mason's Apron" ließen
die Knie zucken und die Beine wirbeln. Songs wie: "Finnegan's Wake" ,
"The Leaving of Liverpool" oder "The Wild Rover" wurden mitgesungen,
oder vielmehr: mitgegrölt. Dabei erschien uns die Dubliners-Musik
erdiger und auch ehrlicher als der etwas verkünstlelte Folkrock der
Swarbricks, Carthys und Williamsons.
Und dann waren da die
Balladen. Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag im Winter 1971, als
ich zum ersten Mal ein Lied hörte, bei dem mir eine Gänsehaut über den
Rücken lief. Mit einer Stimme, in der Kraft und Sentimentalität
gleichermaßen lag, sang Luke Kelly die irische Version von
den "Moorsoldaten". "The Peat Bog Soldiers" wurde für uns zur Hymne und
reihte sich nahtlos ein zwischen Lieder wie "Bella Ciao", "Avanti
Popolo" und die "Schmuddelkinder" von Franz Josef Degenhard.
Irland 1972 / Dublin - Glendalough
Im
Mai 1972 entschlossen sich mein Freund Hajo Steinert und ich spontan zu
einer Reise nach Irland. Wir buchten ab Düsseldorf und landeten nach
einem stürmischen Flug mit einer BAC 111 am 25. Mai auf dem
Dublin-Airport. Es regnete naturgemäß in Strömen. Wir hatten wenig Geld
und lediglich ein kleines Zwei-Mann-Zelt dabei. Deshalb übernachteten
wir erstmal in einer Jugendherberge, besuchten am nächsten Tag den
schon damals berühmten "O'Donoghue's Pub" und wunderten uns darüber,
dass in Dublin viele Zeitungsverkäufer wie "The Dubliners" aussehen.
Dann
beschlossen wir, in die Wicklow Mountains zu trampen. Über Bray und
Greystones gelangten wir schließlich in eine gottverlassene Gegend.
Kurz vor Glendalough wurden wir von einem dreirädrigen, klapprigen
Karren etwa zwei Meilen tiefer in die Unwirtlichkeit mitgenommen und
standen schließlich am Rande der Straße, ohne dass irgendwo eine
Menschenseele zu sehen war.
Nach einer halben Stunde sahen
wir in einiger Entfernung ein Auto kommen. Wir streckten unsere Daumen
in den Wind und der Wagen hielt tatsächlich. Es war ein weißer Rolls
Royce, "einer von Zweien in ganz Irland", wie der junge Mann
behauptete, der den Rolls fuhr.
"Ich fahre den Wagen ein
bisschen spazieren", sagte er ohne Anmaßung, "wollt Ihr eine Rundfahrt
durch die Mountains mitmachen? Ich bringe Euch dann zum Schluss nach
Glendalough."
Wir willigten ein. Der Bursche gab Gas, bot
uns echten irischen Whiskey aus der eingebauten Bar an und raste dann
mit annähernd 60 Meilen durch die engen Straßen. Aus dem Radio
erklangen Jigs und Reels, und der Whiskey schmeckte nach mehr. Als wir
schließlich in Glendalough ankamen, war ich zwar zum ersten Mal in
meinem Leben mit einem Rolls Royce gefahren, aber meinen Magen schien
ich irgendwo unterwegs auf der Strecke verloren zu haben.
Glendalough
war zu der Zeit noch eine Ansammlung einiger Häuser ohne
Touristenbusse, aber schon mit der kleinen Souvenirbude in
Friedhofsnähe. Eine Meile weiter, am Upper Lake, wo heute ein riesiger
Parkplatz ist, schlugen wir unser Zelt auf und versuchten verzweifelt,
Steaks in zusammen gerollter Alufolie zu grillen. Der Regen, der schon
seit Stunden ohne Unterlass niederging, vereitelte dies mit irischer
Hartnäckigkeit und zwang uns, die nächsten Tage die Hälfte unserer
Ersparnisse für die klammen Betten und das vorzügliche, aber
unbezwingbare Frühstück von Mrs. Betts auszugeben. Während sie uns
nachmittags kiloweise "homemade scones" und literweise Tee servierte,
wollte sie immer wieder wissen, ob wir "okay" seien. Ihr freundliches
Lächeln, das durch die beiden hervorstehenden Zähne noch verstärkt
wurde, machte sie für uns zur Urmutter irischer Gastfreundschaft und
Lebensfreude.
Irland
1973 / Ardara, Co. Donegal
Ein Jahr später, bei
meiner zweiten Irlandreise im Sommer 1973, sang ein gewisser Mackie
Brown in der "Green House Bar" in Ardara, County Donegal, die "Seven
Drunken Nights". Dabei hüpfte er wie ein Gockel in der Kneipe umher,
begleitet von James Josie McHugh, einem älteren, enorm dicken
Lokalmatadoren, der mit seiner Fiedel die Herzen alter Frauen und
jugendlicher Touristinnen gleichermaßen verzückte. Josie's
Lieblingsstücke waren: "The Hen's March Through The Midden" und "The
Four-Poster Bed". Wenn er sie spielte, hüpfte Mackie Brown durch die
Kneipe, schwadronierte um die älteren Damen herum und gerierte sich wie
eine Karikatur von Gertrude Degenhard - nur noch zappeliger und dürrer
als die Zeichnungen je sein können. Später tanzten die alten Frauen
gemeinsam mit amerikanischen Touristinnen Oldtime Waltzes, und ich war
am Ende des Abends froh, allen Heiratsanträgen widerstanden zu haben.
Es war klar, dass ich nach diesen einschlägigen Begegnungen in den
darauf folgenden Jahren immer wieder nach Irland fahren musste.
Siegen 1973 / Siegerlandhalle
Einige
Zeit nach meiner Begegnung mit James Josie McHugh kaufte ich mir für
hundert Mark eine gebrauchte Geige und begann unter dem Protest meiner
Wohngemeinschaftsgenossen unerhörte Töne auf meinem Instrument zu
kratzen. Man verbannte mich auf die Toilette, die eine halbe Etage
tiefer im Treppenhaus lag, und dort lernte ich voller Ingrimm die
ersten Tunes auf der Fiedel. Auf lediglich einskommafünf Quadratmetern
wurde mir klar, dass irische Geiger ihre Technik auch auf dem Klo
gelernt haben mussten, und so wunderte ich mich nicht schlecht, als ich
im Herbst 1973, in der dritten Reihe sitzend, das erste Konzert der
bewunderten DUBLINERS in der Siegerlandhalle hörte. Ich sah, dass John
Sheahan ganz und gar "klassisch" spielte, eine Art Gentleman der
irischen Volksmusik. Ich war von seiner spielerischen Präzision ebenso
begeistert wie von seinem enormen Rhythmusgefühl. Barney McKenna
brillierte bei seinem Solo wie ein Irrwisch auf seinem Tenorbanjo und
griff mitten im Reel plötzlich die Bünde mit der linken Hand von oben
(ich dachte unwillkürlich an Jimi Hendrix). Danach veranstalteten John,
Ciaran Bourke und Barney den berühmten "Octopus-Reel", eine artistische
Übung, die schon auf vielen Fotos verewigt wurde. Luke Kelly sang
"Springhill" und ich spürte wieder diesen geheimnisvollen Schauer in
mir, der mich jedes Mal überkommt, wenn eine dieser melancholischen
Balladen erklingt. Lukes rotes, buschiges Haar wurde vom Bühnenlicht
illuminiert und gab ihm eine fast unwirkliche Korona. Seine
Interpretation der Balladen zog mich vollkommen in Bann, und sein
hintergründiger Humor, mit dem er die Stücke ansagte, hat mich tief
beeindruckt.
Die „Dubliners" hörte ich in den Jahren darauf
nur noch einmal "in concert". Ich erfuhr 1974 von Ciaran Bourkes
Hirnblutung und sah die Band kurz darauf in einer neuen Besetzung. Ich
war schon seit einiger Zeit selber so tief mit der irischen Musik
verbunden, dass ich mich wunderte, mit welcher Selbstverständlichkeit
die Dubliners schon damals ihrem Stil treu blieben. Die Zeit der
kontinentalen Folkfestivals war angebrochen und „Planxty" war schon
längst eine Legende. Mit den Festivals in Osnabrück, Lennestadt und
Ingelheim kamen Gruppen wie „Boys of the Lough", „Alba", „Oisín" und
„Ossian", schließlich die famose „Bothy Band". Die rockigen
"off-beat-chords" mit "open tuning" faszinierten die Folk-Enthusiasten
aus Deutschland, Holland und Frankreich und die irischen Musiker fanden
allerorts reichlich Epigonen.
Auch wir blieben von diesem
Trend nicht verschont. Mit meiner eigenen damaligen Gruppe "Southwind"
traten wir Mitte bis Ende der siebziger Jahre schließlich selbst bei
einigen Festivals auf, immer wieder aufs Neue inspiriert durch
sommerliche Irlandreisen, insbesondere nach Donegal und Clare. Ich
lernte von irischen Geigern "to play by heart and by listening", hasste
das Notenlesen wie die Pest und bemühte mich um einen sauberen Strich
„... and I’m still looking for, what I haven’t found ..."
1979 - 1986 / No Irish Ways
Anfang
der achtziger Jahre starb James Josie McHugh, mein eigentlicher
Geigenmentor. 1984 hörte ich von Luke Kellys Tod und ich spürte, wie
eine Erschütterung durch die gesamte Folkszene ging. Wir alle wussten,
dass ein ganz großer Sänger von uns gegangen war.
Lukes
Krankheit erschien mir damals fast wie ein Symbol und ging parallel mit
einem zwischenzeitlichen Abflauen der Popularität der irischen Musik
Anfang der Achtziger Jahre. Erst die „Pogues" machten die irische,
traditionelle Musik auf dem Kontinent wieder populärer: Punks und
Folkfreaks hüpften, klatschten und tanzten bei den Konzerten Pogo -
eine musikalische und stilistische Ehe, die ich mir Jahre zuvor nie
hätte vorstellen können.
Ich selbst ging in den frühen
achtziger Jahren auf musikalischen Abwegen, versuchte, eigene deutsch
geschriebene Texte mit Folkrock-Elementen zu verknüpfen und scheiterte
hoffnungslos an diesem Konzept. Ich unternahm Saitensprünge in den
Swing und Jazz, versuchte mich am Bluegrass und spürte, dass mich das
irische Element darin am meisten in seinen Bann zog. Zwischen 1979 und
1986 fuhr ich nicht nach Irland.
Gleichzeitig begann ich mit
der Filmarbeit. Schon Anfang der achtziger Jahre - kurz nach meinem
Umzug nach Bremen - träumte ich von Dreharbeiten in Irland, doch dieser
Traum sollte sich erst mehr als zehn Jahre später erfüllen.
Bremen 1993 / Die Glocke
Im
November 1993 lud mich die Musikerin Tina McLoughlin, die damals in
meiner Band - "The Josie White Revival Band" - Tinwhistle spielte, zu
einem Konzert in die Bremer "Glocke" ein.
"Dort spielen die
Dubliners", sagte sie, "ich habe Backstage-Karten und wir kommen
umsonst rein." Ich zögerte. Mit den „Dubliners" hatte ich mich jahrelang
nicht weiter beschäftigt. Ich hatte zwar hin und wieder neue Songs
gehört und mich gewundert, wie wenig sich im Laufe der Zeit eigentlich
am Stil der Band verändert hatte. Da ich jedoch an jenem Abend nichts
anderes vorhatte, nahm ich Tinas Angebot an und verabredete mich mit
ihr um halb acht vor dem Haupteingang.
Noch hatte ich keine
Ahnung, dass an diesem Abend die eigentliche Geschichte des
Dubliners-Films beginnen sollte...
Wir gehen durchs
Foyer zu den Backstage-Räumen. John Sheahan begrüßt Tina und zeigt ihr
ein paar selbst geschriebene Noten. Tina holt ihre Tinwhistle aus der
Tasche und spielt das Stück vom Blatt. John nimmt seine Geige und
intoniert dazu die zweite Stimme. Tina stellt mich als Musiker vor und
John fragt nach den Instrumenten, die ich spiele. Barney Mckenna kommt
hinzu und lädt uns ein, vom kalten Buffet zu nehmen, es sei genug da
für alle. Einige Fans umkreisen die fünf Musiker wie Nachtfalter das
Licht, und Eamonn Campbell erzählt einigen dieser "jitterbugs" einen
Witz. Ronnie Drew sitzt in einem kleinen Nebenraum und löst
Kreuzworträtsel. Seán Cannon stimmt seine Gitarre, er ist sehr
konzentriert. Eamonn prostet uns mit einem Bier zu. Ich nehme auch eine
Flasche und er fragt nach meinem Namen. " ... but don't call me
Willieburger !" sage ich noch, und nach einem kurzem fragenden Blick
lässt Eamonn ein heiseres Lachen hören, das noch viel schärfer als Koks
knirscht. Tina und ich verlassen den Backstage-Raum und suchen uns
einen Platz auf dem Rang, links oben über der Bühne. Die Fans warten im
Foyer, einige gehen schon in den Saal, nehmen ihre Sitzplätze ein: alt
und jung zwischen 16 und 60 einträchtig beisammen - Schüler und
Schülerinnen, Büroangestellte, Fernfahrer, Hausfrauen, Lehrer,
Althippies, Neuhippies, Punks, Manager, Seeleute. Irgendetwas ist
seltsam an dieser Mischung, denke ich, und ich frage mich, ob alle auch
wirklich zum Dubliners-Konzert wollen. Ich spreche mit Tina darüber.
Tina sagt in ihrer typisch trockenen Art: "Das ist immer so !"
"Irgendwie ist es ungewöhnlich", antworte ich. "Das ist wie in Irland",
meint Tina und begrüßt eine Bekannte unten im Saal. Ich gehe nochmals
hinaus ins Foyer, hole mir ein Bier und schaue mich um. Es herrscht
eine gespannte, aber gleichzeitig auch lockere Stimmung. Der
Merchandising-Tisch mit dem alle überragenden Tourmanager Michael Cropp
ist dicht umlagert. Das schwarze Bier wird getrunken. Hier und da hört
man Bruchstücke aus irgendwelchen Dubliners-Songs. Die Zeit hat den
Atem angehalten, denke ich, so, als wären die Kapitel eines zwanzig
Jahre alten Buches plötzlich zurückgeschlagen worden. Ich gehe zurück
zu meinem Platz.
Das Konzert beginnt. John, Ronnie und Seán
kommen als erste auf die Bühne, dann Eamonn und schließlich - mit
gebührendem Abstand - Barney, das gelobte Banjo auf dem Arm. Ronnie
schlägt einen Akkord, John spielt ein paar Töne zum Auftakt, die Band
setzt ein. Der "Swallow's Tail Reel" schließt endgültig den Zeitkreis
und ich befinde mich wieder Anfang der siebziger Jahre in der
Siegerlandhalle mit demselben staunenden, geöffneten Mund wie damals.
Da stehen sie nun einträchtig nebeneinander und spielen ihre Musik mit
der Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit wie in einem irischen Pub,
so, als hätte es in den letzten zwanzig Jahren keine neuen Trends in
der Folkmusik gegeben, keine neuen Musikrichtungen, keinen Punk, keinen
Rap. Sie spielen die Stücke gradlinig, schnörkellos und doch merkt man
jedem Song, jedem Instrumental eine tief sitzende virtuose Routine an,
die sich umso mehr verstärkt, je länger das Konzert dauert. Als Ronnie
zum Schluss des ersten Sets "Oro sé do Bhatha Bhaile" singt und das
Stück mit dem Reel von John und Barney ausklingt, bin ich restlos
begeistert. Ich gehe für einige Minuten nach draußen, nehme eine Brise
frische Herbstluft, in der man den Winter schon riechen kann, und
trinke ein weiteres Bier.
Das Konzert dauerte in
dieser Nacht länger als ich vorher gedacht hatte, und es ging später
noch in einem Fischrestaurant im Bremer Schnoorviertel weiter. Doch ich
will der Reihe nach erzählen:
Nach dem über zweieinhalb
stündigen Konzert kamen einige besonders enthusiastische Fans in die
Backstage-Räume und überbrachten Weihnachtsgeschenke. Eine Frau, deren
Gesicht ich schon früher im Supermarkt in meiner Nachbarschaft gesehen
hatte, trug einen riesigen Geschenkkorb herein und verteilte die Sachen
an die Musiker. Dann wurde ein Album mit alten Fotos aufgeschlagen und
Autogramme gegeben. Ronnie hatte seinen hellen Trenchcoat schon
angezogen und verabschiedete sich: "Ich muss ins Hotel, ich bin müde
und morgen ist noch ein anstrengender Tag", sagte er zu Tina gewandt
und gab mir die Hand zum Abschied. Wir warteten, bis die meisten Fans
ihre Autogramme abgeholt hatten und gingen dann gemeinsam ins
Fischrestaurant.
Ich setze mich neben John und
nach einer Weile erzähle ich ihm, was mir an dem Abend aufgefallen ist.
John hört mir ruhig zu und fragt, ob das ungewöhnlich sei. Ich
antworte, dass ich es höchst ungewöhnlich fände, dass sich in einem
Konzert so viele unterschiedliche Menschen einfinden, um eine Musik zu
hören, die so wenig mit Mode und Trends zu tun hat wie die Musik der
Dubliners. "Eine echte Musik für die ganze Familie", sage ich, "man
müsste einen Film darüber machen !" John lacht. "Hast Du etwas mit Film
zu tun ?", fragt er und ich erzähle ihm über die Dreharbeiten zu meinen
letzten Dokumentarfilm, ein europäisches Segelabenteuer, bei dem ich in
der Hafengegend von Dublin gefilmt hatte. John hört interessiert zu und
es entwickelt sich ein spannendes Gespräch über Dublin und seine
Menschen. Wir löffeln unsere Fischsuppen und John bestellt noch
Seezunge. Nach einer Weile - ich bin gerade auf der Toilette Barney
McKenna begegnet - frage ich John, ob es denn einen Film über die
„Dubliners" gibt. Ich könne mir nicht vorstellen, dass dieses Phänomen
noch nicht verfilmt sei. Doch John antwortet: "So weit ich weiß, gibt
es einige Fernsehshows bei denen wir aufgetreten sind und einen Film
über Dublin, in dem Ronnie eine Hauptrolle spielt und die Band einige
Lieder singt. Ach ja, und das englische BBC war auch mal bei uns
zuhause und hat ein paar Aufnahmen gemacht." "Und es gibt keinen Film
über eine Tournee der Dubliners in Deutschland ?" frage ich. "Nein, es
gibt keinen", antwortet John. Mein anfängliches ungläubiges Interesse
steigert sich zu einer latenten Aufregung: "Ich würde gerne solch einen
Film machen", schlage ich vor, "einen Film, der die Dubliners 'on tour'
in Deutschland zeigt und sie gleichermaßen portraitiert, wie wäre das?"
John blinzelt mich von der Seite an: "Schick' mir ein Fax mit Deiner
Idee", meint er, "dann sehen wir weiter." Ich verspreche ihm, mir
einige Gedanken zu machen und ihm die Idee in den nächsten Wochen
zuzusenden. "Du brauchst Dich nicht zu beeilen", ergänzt er und
versucht meinen Eifer ein wenig zu bremsen, "in Irland geht alles ein
kleines bisschen langsamer."
Ich trinke noch ein paar Bier und
verabschiede mich dann von John und Tina. Eamonn und Barney haben es
sich am Tresen gemütlich gemacht und Seán singt deutsche Volkslieder.
Eine besonders begeisterte deutsche Fanatikerin klatscht wie in Trance
gegen den Rhythmus des Liedes, und Michael Cropp, der Tourmanager,
scheint vom Schlaf nicht mehr allzu fern zu sein und hält seinen Bauch
liebevoll umfangen ...
Ein Dubliner im „Dubliner" /
Dublin 1994
„Manchmal laufen die Dinge anders als
man denkt." Dies ist eine Binsenweisheit, doch sie ist so wahr wie das
Leben selbst.
Von Tina hatte ich John Sheahans Telefon- und
Fax-Nummern bekommen, doch ich war zeitlich eingebunden in die
Fertigstellung meines Dokumentarfilms. Auch sonst gab es einiges zu
tun. Langsam reifte zwar ein Konzept heran, das ich schließlich
aufschrieb, doch nach einiger Zeit gefiel mir die Idee nicht mehr. Ich
ließ die Angelegenheit eine Weile liegen und kümmerte mich um andere
Dinge.
Im Herbst 1994 fand in Dublin eine
Medienkonferenz statt, zu der ich eingeladen war. Eine gute
Gelegenheit, um Kontakt zu John Sheahan aufzunehmen und mit ihm über
die Idee zum Film zu sprechen. Ich schrieb meine Idee auf zwei knappe
Seiten, und plötzlich fand ich Gefallen daran. Ich schickte das Exposé
als Fax nach Dublin mit der Bitte um Antwort, doch als der Tag meines
Abflugs kam, war noch keine Rückmeldung erfolgt. Also beschloss ich,
erst einmal zur Konferenz nach Dublin zu fliegen und mein Glück dort zu
versuchen.
Am 15. September 1994 kam ich in Dublin an und
fuhr mit dem Taxi in mein Bed & Breakfast, zu Mrs. Trehey nach
Ringsend. Ich hatte schon vorher so viele Termine verabredet, dass ich
kaum Zeit hatte, die "fair old city" richtig zu genießen. Da ich jedoch
einen Tag früher angekommen war, beschloss ich - in einem Anflug von
Nostalgie - nach Bray zu fahren und von dort aus in die Wicklow
Mountains. Ich nahm den DART von der Enfield-Road-Station aus in
Richtung Süden und kam bei strahlendem Sonnenschein in der Hafenstadt
an. Dort trank ich erstmal einen Tee, aß "homemade scones" in einem
italienischen Restaurant mit rot-weiß karierten Tischdecken und ließ
die vielen Erinnerungen an vergangene Irlandreisen Revue passieren ...
Am
nächsten Tag hatte ich John Sheahan an der Strippe. Ich erzählte ihm
von unserem Gespräch in Bremen und meiner Filmidee, und er war so
ehrlich zuzugeben, dass er sich nicht daran erinnern könne. Mein Fax
hatte er offenbar auch noch nicht gelesen. Trotzdem verabredeten wir
ein Treffen, zwei Tage später in "The Dubliner", eine Bar in einem
großen Hotel in Ballsbridge ...
Ich bin schon gegen
Mittag dort, weil ich von Ringsend zu Fuß gegangen bin und setze mich
erst mal an die Bar, um einen Kaffee zu trinken. John hat sich für ein
Uhr angekündigt und es ist noch eine Viertelstunde bis dahin. Ich
trinke meinen Kaffee ohne Eile. Es wird ein Uhr. Ich bestelle noch
einen Kaffee. Es wird viertel nach eins und es wird halb zwei, ohne
dass John gekommen ist. Gegen viertel vor Zwei bestelle ich einen
Whiskey, gegen zwei Uhr noch einen. Um viertel nach Zwei rufe ich
zuhause bei John an. Niemand nimmt den Hörer ab. Ich denke, dass er den
Termin vielleicht vergessen hat und schaue mich in der Eingangshalle
um. Ein Paar sitzt wartend in einer Couchecke, Hotelgäste kommen und
gehen. Als ich gerade wieder zurück in die Bar gehen will, sehe ich
John durch die Eingangstür kommen. Er geht zuerst auf das Paar zu und
begrüßt sie mit entschuldigenden Gesten. Dann bemerkt er mich und kommt
mit den Beiden zu mir herüber. "Du bist Willie, nicht wahr ? Tut mir
leid, dass ich ein bisschen zu spät gekommen bin, aber mein Auto war
irgendwie kaputt", sagt er,. "waren wir nicht für zwei Uhr verabredet
?" Als ich den Kopf schüttle, lächelt er und meint nur "Hm". Dann
stellt er mich dem Paar vor, das einige Meter entfernt steht und
wartet: "Das sind Karsten Jahnke und seine Frau. Sie sind aus Hamburg
herübergekommen, um mit mir über die nächste Deutschlandtournee zu
sprechen." Und zu den Jahnkes gewandt: "Das ist Willie Burger, der Mann
mit der Filmidee." Wir geben einander die Hände und John lädt uns an
einen Tisch zum Essen und Trinken ein. Nachdem sich John über unser
Wohlbefinden erkundigt hat, fordert er mich auf, die Filmidee zu
erzählen. Ich skizziere kurz meine Gedanken, trinke ein paar Schlucke
Bier und höre mir in der Folgezeit Episoden über Barney McKenna, Ciaran
Bourke und Ronnie Drew an, die sich John und Karsten gegenseitig
erzählen: Ciaran, der ganze Regale von Alkohol leer trank und immer nur
auf die Farbe der Etikette reagierte; Barney, der sein Banjo vor lauter
Wut quer durch die Kneipe in die Gläser und Flaschen hinterm Thresen
schleuderte; Ronnie, der zur Schwedentournee zu spät kam, weil ihn die
Flughafenpolizei in Stockholm für eine Nacht festgesetzt hatte und
vieles mehr. "Willie, Deine Idee ist gut", bemerkt John nach mehr als
einer Viertelstunde voller Geschichten, "findest Du nicht auch, Karsten
?" Karsten Jahnke nickt trocken. "Wann beginnt eigentlich die Tournee
?" will John wissen und sieht zu mir herüber, ohne eine Antwort
abzuwarten: "Ist es möglich, die Vorbereitungen für den Film in so
kurzer Zeit zu organisieren ?" Ich schaue ihn ein wenig irritiert an
und antworte mit den Schultern zuckend: "Natürlich, wir müssten uns
eben ein wenig beeilen." Ein kurzer Moment Schweigen. "Nun lasst uns
endlich was essen", schlägt John vor und winkt dem Kellner. "Willst Du
auch etwas essen, Willie ?" "Nein, danke", sage ich, "ich bin nicht
hungrig." Irgendwie hat es mir die Sprache verschlagen. Erst warte ich
fast zwei Stunden und nun soll das Ganze in einer Viertelstunde über
die Bühne gehen ? Ungläubig blicke ich in der Runde umher. Karsten und
John unterhalten sich über die Speisenkarte, Frau Jahnke prostet mir
zu. Ich hebe mein fast leeres Bierglas und sage irgendwas über das
irische Wetter. Der Kellner kommt und nimmt die Bestellung auf. John
fragt mich nochmals, ob ich etwas essen will, aber ich verneine erneut.
"Ich werde jetzt wohl gehen", sage ich etwas unschlüssig zu John, "ich
habe noch ein paar Dinge zu erledigen, die Konferenz und so weiter."
Und zu Karsten Jahnke gewandt: "Wann wollen wir telefonieren ?"
"Nächste Woche", sagt der mit typisch hanseatischem Slang, "dann kommen
Sie nach Hamburg und wir klären die Einzelheiten." Ich verabschiede
mich Hände schüttelnd von allen, unglücklicherweise zuletzt von Frau
Jahnke, und gehe hinaus. Wie peinlich, denke ich noch und schaue mich
um. In der riesenhaften Fensterscheibe des Hotels spiegeln sich die
Wolkentürme des irischen Spätsommers und verwehren einen Blick ins
Innere von "The Dubliner".
Vorbereitungen
In
den darauf folgenden Wochen wurde alles anders: zum Teil hektische
Vorbereitungen, das Team zusammen stellen, Kalkulation der
Produktionskosten, Gespräche in Hamburg und was sonst noch alles dazu
gehört. Eine Schwierigkeit war zum Beispiel die Frage, wo der
Live-Mitschnitt gemacht werden sollte. Die „Alte Oper" in Frankfurt und
die „Philharmonie" in Köln wurden in die engere Auswahl genommen. Die
Tatsache, dass die zweite Tourneehälfte in Frankfurt beginnen sollte,
sprach für die Alte Oper, für die Philharmonie in Köln sprach die
famose Innenarchitektur. Das Congress-Centrum in Hamburg war schon ganz
am Anfang ausgeschieden, weil dort das letzte Konzert stattfinden würde
- und wenn da was schief geht ?! Nein, das Risiko war zu groß. Wir
einigten uns schließlich auf Frankfurt und ich engagierte Erwin Renner
für die technische Organisation des Live-Mitschnitts, einen
Österreicher der in Hamburg lebt. Ich besorgte mir alte Videos von
Auftritten der Dubliners im Irischen Fernsehen RTE, sah mir den
1000-Jahre-Dublin-Film an, in dem Ronnie Drew erzählt und singt und
arbeitete derweil emsig am Konzept weiter. Mit Kameramann Ulli Scholz
besprach
ich Motive und Bildsprache, und mit Frank Dostal, einem Freund
von Karsten Jahnke, wurde das Konzept abgesprochen und festgelegt.
Wolfgang Fellenberg, der die Tournee gemeinsam mit Bärbel Münster von
der Konzertagentur Jahnke organisieren sollte, während wir unterwegs
waren, besorgte die notwendigen Drehgenehmigungen und dann ging's los
...
Berlin
/ Tempodrom
Am 21. Oktober 1994 kommen wir um
halb neun Uhr abends in Berlin an. Im Hotel treffe ich Michael Cropp,
und wir unterhalten uns über den Ablauf der Tournee und die Drehorte,
die für den Film besonders interessant sein könnten. Nach einer
unruhigen Nacht fahren wir am nächsten Morgen zum Flughafen
Berlin-Tegel, um die Musiker abzuholen. Gegen Mittag haben sich schon
einige Fans versammelt. Manuela Kohns und Rainer Burgler, die allgemein
die "grünen Schatten der Dubliners" genannt werden, sind bereits da.
Seán Cannon ist schon einen Tag früher angekommen und wartet im Hotel
auf die Anderen. Der Flug aus London hat eine halbe Stunde Verspätung
und wir gehen noch schnell etwas essen. Dann postieren wir uns nahe der
gläsernen Schiebetür, durch die die Band kommen soll. Als erster
erscheint Ronnie Drew und wird von den Fans klatschend begrüßt. Als er
seinen Gepäckwagen vor dem Flughafengebäude geparkt hat, zündet er sich
schnell eine Zigarre an. Hinter Ronnie kommt John Sheahan und begrüßt
Michael Cropp feixend mit "Welcome to Berlin". Barney McKenna sucht
seinen Weg durch die Menge, er sieht ziemlich mitgenommen aus. Eamonn
Campbell und Michael umarmen sich. Eamonn's unglaubliches Lachen
knattert durch das Foyer. Draußen vor dem Flughafengebäude warten wir
auf den Tourneebus. Barney ist nirgends zu sehen. Ronnie Drew, der
neben mir steht, philosophiert: "Es gibt drei wichtige Fragen im Leben:
Was ist das Leben, wie lange dauert es und - wo ist Barney McKenna ?!"
"Ich fühle mich nicht so gut", sagt Barney, als ich ihn begrüße. Er
sitzt schon in Rainers Bus und wartet ungeduldig darauf, dass er ins
Hotel gefahren wird. Uli inszeniert noch ein kurzes close up von
Ronnies Hand, die die Seitentür des Tourneebusses aufschiebt und dann
packen wir unser Equipment zusammen, um so schnell wie möglich zum
„Tempodrom" zu gelangen, in dem das abendliche Konzert stattfinden
soll. "See you later", ruft John uns nach, als wir uns in den Fahrstuhl
zum Parkdeck hineinzwängen.
Das „Tempodrom" ist ein
ganz normales Zirkuszelt, in dem alle möglichen Veranstaltungen
stattfinden. An diesem Abend jedoch ist man auf eine größere Menge von
Fans vorbereitet. "In Berlin ist oft der Teufel los, wenn die Dubliners
auftreten", sagt Michael Cropp, "manchmal prügeln sich einige verrückte
Leute nur so zum Spaß; jedenfalls ist die Stimmung unvergleichlich, vor
allem in der zweiten Hälfte, wenn die Hits gespielt werden." Ich
bereite das Team auf die Dinge vor, die da kommen sollen, bespreche
noch das ein oder andere Detail mit Joop und René, den beiden
Holländern, die bei der Tournee für Sound und Licht verantwortlich sind
und warte gespannt auf den Beginn des Konzerts.
Das Konzert
verläuft gut, es gibt zwei Zugaben: "The Irish Rover" und "The Wild
Rover". Für die dritte Zugabe sind die Enthusiasten nicht ausdauernd
genug. Loreena McKennitts sphärische Klänge geleiten die Berliner in
die noch ziemlich milde Herbstnacht hinaus. Ihr Instrumental schwingt
noch in meinen Ohren, als wir beginnen, unser Equipment
zusammenzupacken, und vermischt sich dort mit den
Dubliners-Ohrwürmern...
Der Tag danach
Wenn
ich den ersten Drehtag als Symbol für den weiteren Verlauf der
Filmarbeiten gewertet hätte, dann wäre es gleichzeitig auch der einzige
geblieben. Es lief so ziemlich alles schief, was schiefgehen konnte.
Die in Berlin geliehene Kamera fiel aus: zwei Videobänder waren völlig
unbrauchbar. Glücklicherweise hatten wir noch eine Ersatzkamera dabei.
Backstage, in den Wohnwagen des Berliner Tempodroms, wo normalerweise
nach dem Konzert "noch der Bär los sein soll", war absolut "tote Hose".
Lediglich drei ältere Ladies begrüßten die bärtigen Musiker und ließen
sich zum wievielten Male Autogramme auf irgendwelche alten
Dubliners-Schallplatten schreiben. Barney war nach dem Konzert völlig
erschöpft in den Wohnwagen hinterm Zelt geschwankt. Er hatte Fieber und
konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Wind hatte einen von
unseren Scheinwerfern umgeweht, der - wie ein Wunder - trotzdem
weiterstrahlte. Ronnie ging, wie schon im Vorjahr in Bremen, ziemlich
früh ins Hotel. Wir verabredeten uns mit John, Seán und Eamonn in einer
Bar und als wir unsere Geräte zusammengepackt hatten, entdeckte ich
Ronnies Gitarre, die er in einer Ecke des Wohnwagens vergessen und
stehengelassen hatte. Wir stellten sie in unserem Bus sicher und fuhren
los, um die anderen zu treffen. Wir waren schon fast eine Stunde im
nächtlichen Berlin herumgekurvt, als Claus, unser Fahrer meinte, dass
es jetzt wohl genug sei, wir würden die Kneipe ja doch nicht finden,
zumal niemand so recht wisse, wie sie eigentlich hieß. Ich war völlig
frustriert und ließ mich etwa gegen drei Uhr ins Bett fallen mit der
Gewissheit, dass nicht jeder Drehtag so verlaufen kann.
On the Road
In
den nächsten sechs Wochen - ebenso wie in dem darauf folgenden halben
Jahr - sollten mich die fünf Bärte nicht mehr loslassen.
Es
war eine aufregende Zeit, immer am Rande der Erschöpfung, und ich
wunderte mich über die unglaubliche Kondition der Musiker, die ja auch
nicht mehr die Jüngsten sind, wie wir wissen. Dass sie die Tournee so
gut durchgehalten haben - teilweise in besserer Verfassung als ich
selbst - zeugt von ihrer langjährigen Erfahrung und einem Lebensstil,
in dem Genuss ebenso kein Fremdwort ist wie das "take it easy". "Die
Deutschen tun sich ein bisschen schwer mit dem Müßiggang", erklärt mir
Ronnie Drew bei einem kurzen Gespräch während des Frühstücks, "sie
wissen nicht, wie viel Spaß es macht, das Leben einfach so zu genießen
wie es ist - ohne Zeitplan, ohne ständige Termine und Verpflichtungen".
Ich erfahre, dass die vielen Klischees, die den Dubliners vor allem auf
dem Kontinent anhängen, vor allem die Projektionen ihrer Fans sind, die
ihre Idole so sehen wollen, weil ihnen selbst etwas fehlt. Eamonn
Campbell drückt es so aus: "Wir sehen einfach ein bisschen wild aus,
und wir scheinen nach Meinung der Fans zu den Leuten zu gehören, die
dem Boss auch mal sagen, dass er sich verp... soll." Und John Sheahan
ergänzt: "Nun ich denke, dass die Deutschen ein bisschen anders mit der
Zeit umgehen als wir; sie sind immer sehr pünktlich. Zum Beispiel, wenn
wir um acht Uhr noch nicht auf der Bühne sind, fangen garantiert einige
rhythmisch zu klatschen an. Dann machen die anderen mit, und wir haben
gar keine andere Wahl als uns zu beeilen. Oder ein anderes Beispiel:
Wir waren nach einem Konzert zu einer Party eingeladen und fragten
einige der Fans, die sich gerade ein paar Autogramme geholt hatten, ob
sie nicht Lust hätten, mitzukommen. Aber die winkten ab und sagten,
dass sie am nächsten Morgen pünktlich zur Arbeit müssten. Ich glaube,
das macht den Unterschied zwischen Iren und Deutschen. Wir leben
irgendwas Unkonventionelles, was den meisten Deutschen - so glaube ich
- oft fehlt, was sie aber auch gerne leben möchten."
Wenn
ich heute - viele Jahre nach den Dreharbeiten - zurückblicke, dann
erscheint mir die Zeit der Produktion am Film unglaublich kurz. Und
doch ist so viel passiert, dass ich eigentlich zwei oder drei Filme
daraus hätte machen können. Nachfolgend daher einige Anekdoten und
Erlebnisse, die im Film keinen Platz gefunden haben.
Alfeld / Sporthalle
Als
besonderes Geschenk zu seiner Verlobung hatte man für Thomas, einen
Waschbrettspieler aus Alfeld, einen Auftritt mit den Dubliners
organisiert. Das Ganze war als Überraschung geplant und sollte bei der
Zugabe stattfinden. Als Thomas von Ronnie auf die Bühne gerufen wurde,
war er sichtlich aufgeregt, aber als er dann schließlich mit seinem
Waschbrett auf der Bühne saß und zu "Irish Rover" die Percussions
spielte, legte er sich mächtig ins Zeug. Hinterher war er überglücklich
und meinte immer nur "Super, einfach super !" Wir machten nach dem
Konzert noch ein paar Aufnahmen in den Umkleidekabinen der Sporthalle
zu Alfeld, ein kleiner Ort am Rande des Harzes, und ich spielte einige
Jigs und Reels auf der Mandoline, im Duett mit John. Eamonn
improvisierte einige Bluesnummern auf einer von einem Fan mitgebrachten
Wandergitarre und malte zuletzt mit einem Filzstift seine Initialen
darauf. Schließlich saßen Seán und ich mit den Instrumenten neben
Barney auf einer langen Holzbank, dem kalten Buffet
gegenüber, und begleiteten ihn bei einigen Tunes. Barney hatte sein
Melodeon ausgepackt, eine kleine Zieharmonika und spielte zum ersten
Mal auf der Tournee "The Job of Journeywork", einen Setdance, den er in
den folgenden Wochen dann ins Konzert integrierte, meistens bevor er
mit seinem berühmten Tenorbanjo-Solo begann.
Friedrichshafen / Bahnhof
Fischbach
Einige Tage später waren wir in
Friedrichshafen am Bodensee und Seán Cannon erzählte mir, dass er hier
einige Monate gelebt und als Anstreicher gearbeitet hatte, im
"Schwabenländle", wie er immer sagte. Im "Bahnhof Fischbach", einem zu
einem Kulturzentrum umgebauten alten Bahnhof mit langen
Biergartentischen, fand abends ein bemerkenswertes Konzert statt, das
mit "Sweet Georgia Brown" endete, eine Zugabe, die die Band nur ein
einziges Mal während der Tournee spielte. Erwin Renner, der den großen
Konzertmitschnitt in Frankfurt organisieren sollte, war aus Hamburg
gekommen, um sich einen Eindruck von der Band zu machen und Kameramann
Ulli hatte die Gelegenheit genutzt, um mit mir nochmals ein paar
Einstellungen für den Live-Mitschnitt zu besprechen.
Wir
erwarteten den Rest unseres Teams tags darauf in Traunstein, in der
Nähe des Chiemsees, wo wir neben Konzertaufnahmen und einigen
atmosphärischen Bildern auch ein Gespräch mit John Sheahan vor der
Alpenkulisse geplant hatten.
Traunstein / Chiemgauhalle
Als
wir am frühen Abend in der Chiemgauhalle ankamen und mit unseren
Dreharbeiten begannen, spielte John im Umkleideraum gerade ein barockes
Stück auf der Geige und Eamonn tanzte dazu, nur mit einer dunkelblauen
Unterhose und seinem frisch gebügelten rosa Hemd bekleidet, ähnlich wie
der alte Mackie Brown aus Donegal. Zwei Österreicherinnen mit
Instrumenten warteten den ganzen Abend lang geduldig auf die
Gelegenheit zu einer Session, und das Traunsteiner Publikum machte das
Konzert zu einer riesigen Party, indem der lokale Konzertmanager vor
der zweiten Zugabe einen Kasten Bier als Geschenk auf die Bühne
stellte.
Am nächsten Morgen fuhren wir mit John Sheahan zu
einem alten Friedhof außerhalb der Stadt und fanden es durchaus nicht
pietätlos, am Rande der Grabstätten auf einer Mauer zu sitzen und John
ein paar Schuhplattler und Reels auf der Tinwhistle spielen zu lassen.
"Ich höre viel klassische Musik, insbesondere Bach und komponiere gerne
Stücke im barocken Stil. Ein solches Stück habe ich etwa vor einem Jahr
geschrieben und ein Bekannter aus Hannover hat ihm den Titel gegeben:
'Among friends'.
John erzählte mir dann die bekannte
Geschichte seines Zusammentreffens mit den anderen Dubliners und dass
er eigentlich nie formal in die Band aufgenommen worden war und spielte
dann eine folkloristische deutsche Melodie auf der Tinwhistle.
Irgendein Hund schien von den hohen Tönen irritiert zu sein und bellte
unentwegt, so dass sich das Gespräch manchmal ein bisschen schwierig
gestaltete. Wir nutzten die Kläffpausen, um über Johns Einstellung zur
Musik und seine Gedanken zu den übrigen Bandmitgliedern zu sprechen.
Mit der ganzen Routine eines Mannes, der Auftritte gewohnt ist,
erzählte John druckreife Anekdoten und skurrile Geschichten aus der
Karriere der Band: "Barney zum Beispiel ist ein Unikum. Er ist nicht
nur ein begnadeter Banjospieler, der die Musik im Blut hat. Es gibt so
viele Geschichten über ihn, die wir 'Barneyismus' nennen, dass ich gar
nicht recht weiß, welche ich erzählen soll. Aber eine finde ich
besonders witzig: Wir schauten einmal aus einem Hotelzimmer raus und
sahen einen Wagen unter uns, der wie es schien, in die Hotelwand rein
gefahren sein musste. Barney meinte, dass dies wohl eine 'obstacle
confusion' sein müsse. Ich sagte zu ihm: Du meinst bestimmt 'optical
illusion'. Nein, sagte er, der Fahrer hat das Hindernis übersehen, weil
er verwirrt war, deshalb also 'obstacle confusion'. So ist Barney nun
mal, er hat seine eigene Sicht der Dinge." John lachte. Er hatte
offensichtlich so viel Gefallen an seinem "Barneyismus" gefunden, dass
ihm noch ein paar weitere einfielen und nur das energische "Stop" des
Kameramanns ihn bremsen konnte. "Ende des Videobandes", sagte Uli
lakonisch, "wir müssen ein Neues einlegen." Wolfgang Rösig, unser
Tontechniker meinte, dass die Zeit schon weit vorangeschritten sei und
dass der Weg nach München noch vor uns liege. Also beendeten wir unser
amüsantes Gespräch und ließen den Toten ihre verdiente Ruhe. Dann
machten wir uns auf nach München, wo am Abend das Konzert im Zirkus
Krone stattfinden sollte.
München / Zirkus Krone
Die
Fans im "Dubliner", einem Irish Pub mitten in München, warten voller
Spannung auf die heiß ersehnten Gäste. Das Konzert im Zirkus Krone war
- wie immer - sehr stimmungsvoll gewesen und eine Kolonie irischer Fans
war Fahnen schwingend und laut mitsingend quer durch den ganzen
Zirkussaal getobt. Danach wurde Backstage fast nur noch irischer
Dialekt gesprochen und die Musiker zur nächtlichen Session in die
Kneipe eingeladen. Ronnie hatte sich - wie üblich - schon früh aus dem
Staub gemacht. Kurz vorher hatte ich ihn noch Bronchien zerreißend
husten gehört und angemerkt, dass er wohl zu viele Zigarren rauche.
Ronnie hatte den Zigarrenstummel aus dem Mund genommen, sich zu mir
umgedreht und gemeint: "Wenn ich Dich nicht so gut leiden könnte, hätte
ich Dir jetzt eine sehr smarte Antwort gegeben !" Dann war er lachend
mit seinem wartenden Taxi abgerauscht.
Im Irish Pub hat sich
das Kommen der Dubliners schnell herum gesprochen. Innerhalb weniger
Minuten ist die Kneipe brechend voll. Einige junge Iren spielen
schnelle Reels und heizen die Stimmung an. Dann kommen John, Eamonn und
Seán. Renée, der holländische Lichttechniker, ist auch dabei und in
seinem Schlepptau kommt Barney unter dem Applaus der Fans in die Kneipe
hereingestolpert. Er hat sein Banjo mitgebracht und setzt sich sofort
zu den jungen Musikern. Mit einigen bekannten Reels und Jigs findet er
sich schnell in die Geschwindigkeit der jungen Musiker ein und man kann
sehen, dass es ihm Spaß macht. Als er "Boulavogue" auf dem Banjo
spielt, ist es in der ganzen Kneipe, in der kurz zuvor noch ein
Höllenlärm geherrscht hat, minutenlang mucksmäuschenstill. Die Nacht
ist wieder mal viel zu schade zum Schlafen und so goutieren wir gerade
mal drei Stunden die Hotelbetten, bevor es am nächsten Morgen nach dem
Frühstück in Richtung Innenstadt geht.
Wir haben einen Dreh
mit den Musikern im Hofbräuhaus geplant und ein Gespräch mit Barney
McKenna. Gegen Mittag sind wir dort, bauen das Licht auf und warten.
Wir sind gegen ein Uhr mit den Musikern verabredet, und alle haben
gesagt, dass sie ganz bestimmt kommen. Michael Cropp ist schon etwas
früher da, und meint mit hintergründigem Humor, dass man einem Iren
niemals "gegen ein Uhr" sagen dürfe, sondern immer nur "punkt Eins", am
besten sogar "viertel vor Eins", damit sicher ist, dass er auch um ein
Uhr da ist. Ich bestelle eine bayrische Leberknödelsuppe und ein Maß
Bier und genieße in tiefen Zügen die Zeit, von der es an diesem
Nachmittag eine Unmenge zu geben scheint. Die fünf losgelassenen Bärte
kommen erst gegen halb drei Uhr an und haben einen Riesenhunger. Barney
bestellt sich zwei Liter Wasser und ist schon bald zu einem Gespräch
über bayrische Volksmusik bereit. Eine Lederhosenkapelle spielt
Evergreens und Barney erzählt und erzählt und erzählt. Ich verstehe
nichts. Nicht weil ich Barney nicht verstehen kann (was manchmal nicht
ganz einfach ist), sondern weil der Lärm im Hofbräuhaus jede
Verständigung verunmöglicht. Ich beuge mich ganz weit über den Tisch
vor, um überhaupt etwas zu hören und breche dann das Ganze ab, weil es
unter diesen Bedingungen keinen Sinn macht, weiterzureden. Barney nimmt
sein Melodeon aus einer Plastiktüte und spielt "The Job of
Journeywork". John holt seine Tinwhistle aus der Tasche und flötet
einen Reel, in den Barney einige Takte später mit dem Banjo einsteigt.
Ich nehme zwei Gabeln und "löffle" damit den Takt. Die
Hobräuhaus-Besucher klatschen freundlich Beifall. Dann setzt die
Lederhosenband wieder ein und mit dem Kaiserwalzer geht es einige
Minuten später hinaus auf die Autobahn nach Augsburg, wo am Abend das
nächste Konzert sein wird.
Augsburg / Stadthalle
Wenn
es einen Preis für gut aufgestellte, bis an den Rand gefüllte Pints of
Guinness geben würde, dann hätten ihn die Organisatoren des Augsburger
Konzerts verdient. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Da stehen
mindestens 250 gefüllte Gläser des schwarzen Bieres in Reih und Glied
und warten auf die Pausenglocke. Als sie ertönt, strömen einige hundert
durstige Kehlen auf die Tische zu und machen sich über die Gläser her.
Im Backstage-Raum wird Barney von zwei ehemaligen DDR-Soldaten an eine
Situation erinnert, als sie vor der Grenzöffnung heimlich durch ein
Kellerfenster in die Backstage-Räume geklettert waren und mit ihm eine
Mandolinen-Session erlebt hatten, aber Barney kann sich nicht daran
erinnern. Brav verteilt er Autogramme an die Unentwegten und lässt sich
in allen möglichen Posen fotografieren. Ich spendiere eine Runde
Grappa, weil es der letzte gemeinsame Abend vor der Tourneepause ist
und muss feststellen, dass Iren zwar gerne Whiskey trinken, aber bei
Grappa nur mit Mühe ihre Gesichtsmuskulatur unter Kontrolle halten
können. Mit dieser Erkenntnis verabschieden wir uns und wünschen uns
gegenseitig eine gute Reise. Ich bin froh, ein paar Tage ausschlafen zu
können, bevor der große Live-Mitschnitt in Frankfurt stattfinden wird.
Auf der Rückfahrt von Süddeutschland in den kühlen Norden dümpele ich
auf dem Rücksitz des Busses im Halbschlaf und fühle irgendwo zwischen
Traum und Wirklichkeit, dass mich die fünf Bärte auch in der
Tourneepause nicht so schnell loslassen werden ...
Frankfurt / Alte Oper
Am
19. November fand in Frankfurt der große Live-Mitschnitt mit sieben
Kameras, 35-Mann-Team und mehreren Technikwagen statt, für mich einer
der Höhepunkte der Tournee. Erwin Renner hatte nach vielem Hin- und Her
mit den Organisatoren der Alten Oper alles hervorragend vorbereitet,
doch die Zeit zum Aufbau war - wie zu befürchten war - viel zu knapp.
Dass alles trotzdem klappte, war schon ein kleines Wunder. Zu diesem
Wunder kam noch ein ganz besonderes Erlebnis, mit dem mich Erwin Renner
überraschte: Mitten in den hektischen Vorbereitungen holte er mich aus
dem Ü-Wagen für die Bildtechnik und sagte, dass er für den guten Sound
einen besonderen Audiotechnik-Wagen bestellt habe. Dann führte er mich
zum Seiteneingang der „Alten Oper", wo gerade ein gigantischer
schwarzer Truck mit vier übergroßen weißen Buchstaben eines japanischen
Weltunternehmens vorfuhr. Heraus stieg ein langhaariger, leicht
übergewichtiger Freak, der sich mit „Ich bin der Harry Braun aus Köln
und mache hier den guten Ton!" vorstellte. Damit betätigte er einen
Druckknopf auf der Rückseite, und der Truck verbreiterte sich
hydraulisch auf fast das Doppelte. Wir stiegen hinein und ich sah ein
gewaltiges Mischpult mit über hundert Reglern, ungläubig staunend wie
ein Junge, der zum ersten Mal an Bord eines Raumschiffs geführt wird.
Im vorderen Teil des Trucks war ein holzgetäfelter Raum, in dem uns
Harry Braun zuerst einmal auf ein frisch gezapftes Kölsch vom Fass
einlud. Ich war so von den Socken, dass ich mein Kölsch viel zu schnell
runterstürzte, mich dabei verschluckte und heftig husten musste. Harry
lachte herzhaft und klopfte mir auf den Rücken: „Na, wohl nix Gutes
gewohnt, was?" Ich schüttelte den Kopf und versuchte ihm klar zu
machen, dass ich in meiner Gummersbacher Jugend mehr als das eine oder
andere Kölsch getrunken hatte, doch er war bereits damit beschäftigt,
ein dickes Kabel seitlich aus dem Truck zu ziehen und an die Techniker
der „Alten Oper" weiter zu geben. „So, das war’s schon!" sagte er
lapidar, „und nun hören wir mal, wie das Ganze sich anhört." Frank
Dostal, der in seinem Musikerleben auch schon einiges erlebt hat,
schien ebenfalls stark beeindruckt und setzte sich ein bisschen
ehrfürchtig zu den Audiotechnikern des Trucks, um die Regie für den
Sound zu übernehmen.
Ich ging zurück in unseren Ü-Wagen, der
mir imVergleich zu dem Truck fast wie ein Campingwagen vorkam, und
befasste mich wieder mit den Instruktionen an die Kameraleute, die sich
inzwischen ihren Platz an der Bühne gesucht hatten. Kurz darauf waren
wir soweit, und das Konzert konnte
beginnen.
Live - Liver - Livest
Wir
sind fast zu gut vorbereitet. Ich hatte für jedes Stück einen
detaillierten Kameraplan vor mir liegen, doch schon noch zwei Stücken
lege ich ihn beiseite und führe Bildregie "by heart". Kameramann Ulli
Scholz, dieses Mal als Live-Mixer tätig, mischt die schön gestalteten
Bilder der Kameraleute zu eigenen Kompositionen zusammen und trotz des
Ausfalls einer Bühnenkamera bei "Whiskey In The Jar" (ich stehe kurz
vor einem Nervenzusammenbruch) sind wir mit unserer Arbeit zuletzt hoch
zufrieden. Die „Dubliners" sind nach ihrer mehrtätigen Pause von den
Strapazen der ersten Tourneehälfte gut erholt nach Frankfurt gekommen,
aber an diesem Abend seltsamerweise auch etwas nervös. So viele Kameras
und das notwendige zusätzliche Licht scheinen auch sie nicht unberührt
zu lassen. Barney McKenna spielt bei seinem Solo sehr konzentriert und
virtuos, aber längst nicht so schnell wie in München. Dennoch: der
"Mason's Apron" wird zum optischen Höhepunkt des gesamten
Live-Mitschnitt. Bei "Song For Ireland" hat Seán Cannon zu seinem
Leidwesen zwar einen Kloß im Hals, aber der lockert sich
glücklicherweise im späteren Verlauf des Konzerts. Bei "Oro Sé Do
'Bheatha Bhaile" singt der Dubliners-Chor den Refrain irgendwo zwischen
Dur und Moll, und wir frotzeln im engen Ü-Wagen, dass selbst so
erfahrene Profis wie die Dubliners manchmal eben auch ein bisschen
daneben liegen. Die Stimmung in den ausverkauften Rängen der mit
dreitausend Besuchern randvoll gefüllten Alten Oper indes ist
fantastisch, und der gediegene Konzertsaal wird bei "Seven Drunken
Nights" zu einem riesigen Irish Pub. Zwei der irischen Fans wollen
sogar die Bühne stürmen, doch Ronnie schickt sie mit einigen "smarten"
Worten wieder zurück in die Reihe, während John den Zwischenruf eines
Trunkenbolds damit kommentiert, dass der Rufer wohl schon in der
"siebten Nacht" sei. Backstage ist nach dem Konzert die große
internationale Familie der Dubliners versammelt und feiert bei einem
üppigen von Manuela Kohns lecker zubereiteten kalten Buffet einen
saftigen Konzertausklang.
Nach dem Frankfurt-Konzert
war mir klar, dass wir mehr als "die halbe Miete" der Dreharbeiten im
Kasten hatten. Die Pflicht war geschafft, jetzt konnte die Kür beginnen.
Bochum / Bergbaumuseum
Unser
Atem entlässt kleine Wölkchen in die kühle Luft des Bergwerkstollens.
Wir sind mit Eamonn Campbell unter Tage, im Bochumer Bergbaumuseum.
Eamonn erzählt mir die Geschichte eines Iren namens Mulvanny, der Mitte
im vergangenen Jahrhundert zusammen mit einem englischen Ingenieur ins
Ruhrgebiet kam und dort maßgeblich an der technologischen Entwicklung
des gesamten Bergbaus beteiligt war. "Es ist schon komisch", sagt
Eamonn, während wir auf eine der gut erhaltenen Loren zugehen, "ein
Paddy hat mit all dem hier begonnen !" Eamonn Campbell erzählt über
seine musikalische Laufbahn: "Besonders beeindruckend war ein Konzert
mit einer Rock-'n-Roll-Band, mit der ich damals unterwegs war.
Plötzlich schwankte neben mir ein Teil der Bühne und das ganze
Schlagzeug mitsamt dem Drummer kippte wie in Zeitlupe über den
Bühnenrand, während ich einfach weiter dastand und seelenruhig meine
Gitarrenriffs spielte." Eamonn ist der Arrangeur bei den Dubliners,
"auch wenn man es ihm nicht ansieht", wie John es ausdrückt, "aber er
kann komplexe Arrangements ohne große Probleme schreiben und auch
entsprechend produzieren." "Ich habe einmal sieben von mir produzierte
Songs zur gleichen Zeit in den englischen Top-100 platziert", sagt
Eamonn nicht ohne Stolz, "das hat noch kein irischer Arrangeur
geschafft. Aber mit den Dubliners zu spielen, ist trotzdem das Größte
in meinem Leben." Eamonns rauchige Stimme wird ganz leise, als er vom
Sterben seines Freundes Luke Kelly erzählt, und dann sagt er mit einem
Mal. "Ich spiele Euch später ein Stück vor - hier unten im Stollen, wo
Luke sich wie im Paradies gefühlt hätte - und das ist meine ganz
persönliche Widmung an ihn." Als wir unser Gespräch beendet haben,
stimmt Eamonn kurz seine Gitarre und dann singt er seine ureigene
Version von "Dirty Old Town", wie sie zuvor nie jemand gehört hat. Als
wir den Stollen verlassen, ist er sehr schweigsam, bleibt ein paar
Schritte hinter mir und wischt sich in einem Moment, in dem er sich
unbeobachtet fühlt, ein paar Tränen aus den Augen. Die Fahrt nach
Bielefeld verschläft Eamonn in unserem Bus, den Kopf an die Scheibe
gedrückt. Die Nacht vorher war ziemlich kurz gewesen: eine Session im
Irish Pub in Bochum-Langendreher und die Party, die bis früh in den
Morgen gedauert hat, fordern ihren Tribut.
Bielefeld / PC 69
In
Bielefeld, im „PC 69", stehen die Fans dicht gedrängt vor der Bühne.
"In Bielefeld ist immer der Teufel los", sagt Michael Cropp, "unter
drei Zugaben wird die Band nie weggelassen." Uli, Wolfgang und Fabian
quetschen sich mit Kamera, Mikrofon und 100-Watt-Strahler durch die
Massen. Fabian wird von ein paar angetrunkenen Fans angepöbelt, die ihm
Schläge androhen für den Fall, dass er "die Funzel noch mal anmacht".
Er ist froh, in der Konzertpause von der Last dieser Drohung befreit zu
werden, indem ich selbst die Leuchte von der Bühne aus ins Publikum
richte, vor allem in Richtung der halbstarken
Möchtegern-Schwarzeneggers, denen es - zu meinem Glück- unmöglich ist,
einen Weg durch die dicht gedrängten Reihen zu finden. Barney ist an
diesem Tag in Superform und verlängert sein Banjo-Solo um ein ganzes
Stück; Eamonn "rockt" an diesem Tag besonders locker und seine
Chuck-Berry-Imitation bei "The Irish Rover" wird zu einem frenetisch
bejubelten Höhepunkt des Konzerts.
Nach dem
Konzert im „PC 69" haben wir zwei Tage Pause und ich nutze diese, um
mir noch ein paar Gedanken über die restlichen Motive und Gespräche zu
machen, die noch fehlen. Bilder und Töne sind nach dem ersten Sichten
sehr gut geworden und schon jetzt haben wir reichlich "harvest home"
gebracht, den größten Tei der Ernte eingefahren ...
Köln / Philharmonie
Seán
Cannon steht mit seiner Gitarre am Rheinufer und singt deutsche
Volkslieder: "Muss I denn zum Städele hinaus" und "Lustig ist das
Zigeunerleben". Im Hintergrund ist der Kölner Dom zu sehen. Das Konzert
in der Philharmonie war - wie jedes Konzert - ein großer Erfolg und wir
sind nach einer weiteren kurzen Nacht, in der Barney in einer
Kellerkneipe in Domsnähe mit einer drallen irischen Schönheit ein
Tänzchen aufgeführt hat, am nächsten Morgen zum Rheinufer gefahren.
Seán erzählt von seiner Zeit in Deutschland, bevor er seine Karriere
als Folksänger in England begann. Er liest gerade Plato und seine
deutschen Sprachkenntnisse sind erstaunlich. Mit witzigen Wortspielen
gibt er auch bei den Konzerten den Stücken immer eine besondere Note:
"Dieser Song ("The Wild Rover") ist auf der ganzen Welt wohlbekannt,
auch in Frankfurt." Seán macht sich viele Gedanken über traditionelle
Musik und er kennt mindestens zwei oder drei Versionen der meisten
Lieder. Auf den ersten Blick wirkt er ein wenig schüchtern, doch wenn
man ihn näher kennen lernt, entpuppt er sich als wortreicher Erzähler
mit einem Hang zu dezentem schwarzen Humor. Seán kam zu den Dubliners
als Luke Kelly krank war und er tourte mit ihm einen Sommer lang. "Es
war eine wundervolle Erfahrung, mit so einem magischen Sänger zusammen
Musik zu machen. Anfangs versuchte ich Luke zu imitieren. Aber das war
unmöglich, weil seine Stimme so unerhört kraftvoll war. Und so zu
singen wie Ronnie, hätte meine Stimme ruiniert. Also musste ich meinen
eigenen Stil finden. Heute interpretiere ich die Songs auf meine Weise,
und das ist mein kleiner Beitrag, um an Luke Kelly zu erinnern."
Am
frühen Nachmittag geht es weiter nach Cloppenburg. An diesem Tag haben
Seán und Eamonn gemeinsam Geburtstag und John inszeniert zusammen mit
dem Publikum in der Stadthalle ein Geburtstagsständchen für die Beiden.
Bremen / Die Glocke
"Ei
was, du Rotkopf", sagte der Esel (zum Hahn), "zieh' lieber mit uns
fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du
überall: Du hast eine gute Stimme, und wenn wir zusammenmusizieren, so
muss es eine Art haben."
So wie die Bremer Stadtmusikanten
im Märchen nach Bremen kamen, so ähnlich bin ich vor Jahren auch in die
Hansestadt gelangt.
Die fünf Musikanten aus Dublin waren
nach einem Bummel über den Bremer Weihnachtsmarkt in die Böttcherstraße
gegangen, und Barney hatte dort sein Melodeon ausgepackt. "The Job Of
Journeywork", das Stück, das uns bei der Tournee als eine Art
"Roadsong" begleitete und der Hornpipe "Harvest Home" animierte Eamonn,
Barneys Hut herunter zu lupfen und die Vorbeigehenden um eine milde
Gabe zu bitten. Eine Stunde zuvor war ich mit Barney McKenna im
Ratskeller gewesen, und er hatte mir so einiges erzählt: "Einige Reels
tendieren dazu, immer schneller zu werden", sagt er auf meine Frage,
"warum er bei seinem Solo manchmal so unglaublich beschleunige, "aber
Barney liebt eigentlich die langsamen Reels lieber, die wir die 'lazy
reels' nennen." Barney liebt es, manchmal von sich in der dritten
Person zu sprechen. „Ich weiß nicht, wie ich manche Dinge auf dem Banjo
mache, es kommt irgendwie über mich. Es muss wohl an der Tradition
liegen, in der ich aufgewachsen bin. Meine ganze Familie macht Musik,
meine Großmutter hat sogar Opernarien gesungen." Er singt einen Song,
den er von seiner Großmutter gelernt hat und lässt dem Lied einen Reel
folgen, den er auf typisch irische Weise "liltet". "Eigentlich sollte
ich in der Militärkapelle spielen, so jedenfalls wollte es mein Vater.
Aber da ich eine Brille tragen musste, wurde ich nicht zur Armee
zugelassen und so wurde es nichts mit der Militärmusik. Ich habe dann
mit der traditionellen Musik angefangen und immer weiter gemacht. Ich
glaube, dass die irische Musik einen eigenen eingebauten Rhythmus hat,
der nicht sonderlich durch artfremde Akkorde und Offbeats verstärkt
werden muss. Mit einem einzigen Instrument kannst du wundervoll subtile
Rhythmen spielen und zu viele Instrumente machen das wieder kaputt."
Barney ist neben Seán der Traditionalist in der Gruppe. Wir trinken
Weinschorle und er prostet mir zu. "Slainté - Gesundheit und ein langes
Leben und: Land ohne Miete für Dich", sagt er in Gälisch. Als ich
versuche, die gälischen Worte nachzusprechen, erteilt mir Barney eine
Kurzlektion in Gälischer Sprache. Barney spricht in einer sehr
bildhaften, assoziativen Sprache, und er geht oft lange Umwege, um
wieder dort anzukommen, von wo er ausgegangen ist. Als Mann des Bildes
ist mir diese Art sehr vertraut und so verstehe ich ihn an diesem
Nachmittag- zu Ronnie Drews höchstem Erstaunen - fast vollständig.
"Dann verstehst Du mehr als ich", sagt Ronnie, "Barney spricht oft in
Rätseln und selbst wir können ihn manchmal kaum begreifen." Barney
erzählt mir von Howth, dem kleinen Ort im Osten der Dublin Bay und von
seinem Haus, in dem er schon seit Jahren lebt. "Wenn Du nach Dublin zum
Filmen kommst, fahren wir mit meinem Boot hinaus aufs Meer. Dann zeige
ich dir die besten Fischgründe und Sam, den Seehund, der da in den
Felsen lebt." Wir prosten uns nochmals zu. Barney hebt sein Glas und
sagt: "Es gibt hier im Norddeutschen einen Trinkspruch, den ich sehr
mag: Auf alles was wir lieben - to all what we love!"
Im
"Hegarty's", einem Irish Pub in Bremen, sind an diesem Nachmittag eine
Menge Fans und Musiker versammelt, um zu Ehren der Dubliners eine
spontane Session zu veranstalten. Wir haben mittlerweile den irischen
Rhythmus angenommen und kommen ungefähr zwei Stunden zu spät, was der
Stimmung aber keinen Abbruch tut. Nachdem die Dubliners eine
verspätetes Irish Breakfast serviert bekommen, und die "local heroes"
aus Bremen mit Jigs und Reels die Stimmung angeheizt haben, steigen
John, Barney, Eamonn und Seán in die Session ein und es entwickelt sich
innerhalb kürzester Zeit die wohl spannendste und gleichzeitig auch
kürzeste Musiksession während der gesamten Tournee. Mit "Farewell to
Ireland", einem meiner Lieblingsreels, endet das Ganze, und wir
entführen die Dubliners ganz schnell aus dem "Hegarty's", weil das
Konzert in der Glocke schon in Kürze beginnen soll.
Nach
dem Konzert wird wieder der obligatorische Korb mit
Weihnachtsgeschenken überreicht und die alten Fotos betrachtet, zu
denen einige neue vom letzten Jahr hinzu gekommen sind. Im
Fischrestaurant, wo wir zuletzt landen, wird noch ein bisschen Musik
gemacht und eine wohl bekannte, begeisterte Frau klatscht völlig
selbstvergessen gegen den Rhythmus der Reels und Jigs an, die John,
Barney und Tina McLoughlin sich gegenseitig zuspielen - so wie im Jahr
zuvor.
Hamburg
/ CCH
Am nächsten Tag fahren wir schon früh nach
Hamburg. Wir haben Ronnie Drew vom Hotel abgeholt und wollen spätestens
um elf Uhr im Hamburger Hafen sein, um mit Ronnie eine Hafenrundfahrt
zu machen. Wir haben zu diesem Zweck eine Barkasse gemietet und als wir
in Hamburg ankommen, herrscht dichter Nebel. Es ist empfindlich kalt
und Ronnies Hände sind noch so steif, dass er sich erstmal den Kaffee
über den hellen Mantel schüttet. Der Kapitän der "Zukunft II" begrüßt
uns und wir fahren langsam in die alte Speicherstadt. Ronnie erzählt
von seinem musikalischen Werdegang und den frühen Anfängen. Er hat
seine Brille, die er normalerweise immer tragen muss, abgelegt und
seine hellen, grünblauen Augen strahlen so tiefgründig wie die irische
See. "Ich habe keine ausgebildete Stimme" beginnt Ronnie, "aber ich
habe eine gute Erzählerstimme. Dominic Behan hat mich stark
beeinflusst und John Molloy war einer der ersten, der meine
musikalische Laufbahn gefördert hat. Wir haben damals im O'Donoghue's
Pub eine ganze Menge bewegt, glaube ich." Ronnie erzählt von den schon
bekannten und gern gehörten Anfängen der Band, er lässt "those early
days in Dublin" wieder auferstehen und steigert sich mit wachsender
Begeisterung in die komplette Dubliners-Story hinein. Das über dreißig
jährige Buch der Band ist aufgeschlagen worden und sitzt in der Gestalt
dieses kleinen Mannes vor mir, der manchmal so unheimlich und kauzig
wirkt, mir aber während der Tournee immer mehr ans Herz gewachsen ist.
Ich brauche keine Fragen mehr zu stellen. Ronnie erzählt wie aus einem
Guss: über irische Musik, über das irische Revival, welches nie
stattfand, weil die Musik immer da war. Er charakterisiert liebevoll
die anderen Musiker und berichtet über die 'Ronnie Drew Group' mit der
alles angefangen hat. Als ich ihm über eine Fernsehshow aus den frühen
60er Jahren im irischen Fernsehen erzähle, ist er auf eine
nachdenkliche Art belustigt. Ich hatte nämlich in alten Archivaufnahmen
gesehen, wie die damals noch recht unbekannten Musiker ganz angespannt
auf ihren Stühlen gesessen hatten, weil sie in Kürze aufspielen
sollten. Dann waren sie vor lauter Aufregung viel zu früh von ihren
Sitzen hoch gesprungen und mussten vom Moderator der Sendung mit
Nachdruck auf ihre Plätze zurück geschickt werden. "Ja, wir waren
damals sehr vorlaut und haben uns immer in den Mittelpunkt gespielt",
sagt Ronnie schmunzelnd und fügt hinzu: "Aber das war auch eine
aufregende Zeit. Es war die Zeit, wo die irische Musik aus den Clubs
hinaus in die Kneipen und dann nach ganz Europa transportiert wurde.
Und wir können uns glücklich schätzen, dass wir dabei mithelfen
konnten." Respektvoll beschreibt Ronnie Drew seinen alten, 1987
verstorbenen Freund Ciaran Bourke: "Ciaran war ganz tief in der
irischen Kultur und Mythologie verwurzelt. Er wusste alles und war wie
ein Lexikon, in dem man nach Belieben nachschlagen kann. Wir haben ihn
auch in den Jahren seiner schweren Krankheit immer wieder besucht, und
er hat uns viel geholfen. Wir vermissen ihn wie einen Bruder. Luke war
ein Sänger mit einer außerordentlichen Stimme und einem ziemlich
trockenen Humor. Als er einmal als Schauspieler bei einem Bühnenstück
mitwirkte, fielen ihm zwei schlechte Zähne beim Monolog aus dem Mund.
Er hat sie einfach vom Holzboden aufgehoben und wieder zurück in den
Mund gesteckt. So war Luke. Einfach und unkompliziert." Ich fordere
Ronnie auf, ein paar Lieder zu singen. Er überlegt kurz und dann singt
er "The woman From Wexford" und "Dicey Reilly". Als wir am Ende unserer
Hafenrundfahrt angekommen sind, erfüllen wir uns einen lang gehegten
Wunsch: Wolfgang, der Tontechniker, Ronnie in der Mitte sitzend und ich
links daneben, singen gemeinsam: 'Weila, Weila", nur für uns, nur fürs
Archiv.
Im Anschluss an unsere Barkassenfahrt essen wir eine
Kleinigkeit im "Finnegan's Wake", einem Irish Pub in der Nähe des
Rathauses, und Ronnie lässt es sich nicht nehmen, für uns am Tresen
stehend "Finnegan's Wake" zu singen. Man kann sich gut vorstellen, wie
aufgeregt die jungen Iren an diesem Nachmittag waren, die gerade dort
zu arbeiten hatten. Als wir gegen vier Uhr mit unseren Dreharbeiten
fertig sind, weiß ich, dass wir den Film "im Kasten haben". Ronnie
macht noch einige Weihnachtseinkäufe und dann bringen wir ihn zurück
ins Hotel.
Das Konzert im Hamburger Congress-Centrum
wurde zum krönenden Abschluss der Deutschlandtournee: über fünfhundert
begeisterte Fans tanzten vor der Bühne und sangen aus voller Brust die
Lieder mit.
Bei der traditionellen Session in Karsten Jahnkes
Haus, im Anschluss an das letzte Konzert, spielten Tina und ihre
Freundin Heike aus Hamburg mit John und Barney zusammen Jigs, Reels und
Slow Airs. Barney gab sich zuletzt mit einigen Gläsern Bier zuviel im
Kopf den Rest. Er hatte sie sich redlich verdient. Mit "Among friends"
im Ohr fuhren wir gegen Morgen zurück ins Hotel und versuchten, noch
ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.
Am nächsten Tag
begleiteten wir die fünf Barden zum Flughafen und
flöteten ihnen unsere
Version von "Among Friends" ins Ohr, inklusive einer selbst
gedichteten, gesungen Strophe von Fabian Becker, unserem
Kamera-Assistenten. Barney bedankte sich auf seine Art. Im Kopf noch
den schweren "hangover" der vergangenen Nacht, holte er sein Melodeon
aus der Plastiktüte und spielte "The Job Of Journeywork". Dann zeigte
er mir noch ein altes Foto von seinem Boot
und
ging mit John zur
Passkontrolle. Das Flugzeug verschwand im grauen Hamburger
Nachmittagshimmel - und "tschüs"!
Ich nahm noch am
gleichen Abend den D-Zug-Schlafwagen nach Zermatt in der Schweiz, um
bei strahlendem Winterwetter unterm Matterhorn für ein paar Tage
auszuschlafen, spazieren zu gehen und in einer fremden Umgebung die
fünf Bärte eine Zeitlang hinter mir zurückzulassen. Ich hatte
allerdings eine Audio-Cassette mit dem Frankfurter Live-Mitschnitt bei
mir und konnte es nicht lassen, mir abends im Bett beim Blick auf die
dunkle Silhouette des Berges "Nora", "Chill Chais" oder "The Rocky Road
To Dublin" anzuhören.
Winter 1994 - Frühling 1995
In
den darauf folgenden Wochen sichteten wir das Material und ließen die
Tournee nochmals Revue passieren. Wir hatten ungefähr 60 Stunden Bild-
und Tonmaterial vom Feinsten, und der schmerzhafte Prozess der Trennung
von lieb gewonnenen Aufnahmen stand bevor. Die Dreharbeiten für die
Exposition und den Schluss des Films, die im Frühling in Irland
stattfinden sollten, mussten noch organisiert werden und bis dahin - so
hatte ich es mir vorgenommen - wollte ich den Rohschnitt fertig
gestellt haben.
Ich hatte während der fast sechswöchigen
Tournee immer wieder Musik mit den Dubliners gemacht, jedenfalls so
weit die Dreharbeiten es erlaubten. Wir hatten über Musik und unsere
musikalischen Vorlieben gesprochen, und dabei war die Zeit wie im Fluge
verrauscht. Und jetzt sollte das alles auf ca. eineinhalb Stunden
zusammen gefasst werden? Ein Berg von Bildern flimmerte vor mir und
wollte sortiert und strukturiert werden.
Und dabei
gab es
Einiges, das mir am Herzen lag: Es gibt so viele Klischees, die der
Band schon seit mehreren Jahrzehnten voraus eilen, und die sie als
"bärtige, raue Gesellen" kennzeichnen, „die irische Gassenhauer singen
und eine Menge Whiskey und Bier trinken". Die Klischees haben - wie
alle Klischees - einen wahren Kern: Ronnie Drew, Barney McKenna, John
Sheahn, Seán Cannon und Eamonn Campbell haben Bärte und am liebsten
möchte man mit ihnen auf Kaperfahrt gehen; sie sind auch auf eine
sympathische Art rau; sie haben Gassenhauer wie "The Wild Rover",
"Whiskey in the Jar" und "Seven Drunken Nights" weltbekannt gemacht und
sie haben in der Zeit ihrer musikalischen Laufbahn sicherlich eine
Menge Whiskey und Bier getrunken. Aber hinter all den Klischees
befinden sich, wie Barney McKenna es in unserem Gespräch ausgedrückt
hat, "sanfte Herzen aus Gold" und äußerst empfindsame Seelen. Dieses
und vieles mehr wollte ich unbedingt in meinem Film darstellen.
Ich
habe die fünf Musiker als hochkarätige Einzelkönner mit profundem
theoretischem Wissen und außergewöhnlichem Spielvermögen kennen
gelernt. Dass sie dabei nicht nur Irish Folk im Kopf haben, hat mich
besonders beeindruckt. Insbesondere Ronnie, John und Eamonn, die sich
auch mit anderen musikalischen Richtungen beschäftigen und ein breit
gefächertes Interesse haben, drücken dies in ihren Gedanken aus.
Wir
haben über das Verhältnis von traditioneller Musik und Unterhaltung
gesprochen, "entertainment", wie Ronnie es ausdrückt: "Die Leute wollen
beim Konzert etwas erleben. Klar, sie kommen auch wegen irischer Musik,
weil sie sich an ihre eigenen Irlandreisen erinnern, aber vor allem
kommen sie auch, um gute Unterhaltung zu erleben." Eamonn Campbell
ergänzt: "Wir haben Spaß an der Musik, das ist das Wesentliche." Und
John Sheahan vergleicht die Musik sogar mit dem Jazz: "Jedes Stück ist
für mich eine Art Neuschöpfung, bei der ich immer wieder variiere und
improvisiere, sogar bei Stücken wie 'The Black Velvet Band' oder 'The
Wild Rover'. Das gibt der Sache eine frische Note und macht sie nicht
langweilig." Ronnie Drew ist mittlerweile ein bisschen müde geworden
vom ständigen Herumreisen und strebt mit seinen 60 Jahren eine neue
Karriere als Sänger an: "Ich nehme gerade Stücke für eine neue
Solo-Platte auf, und die Arbeit daran macht mir sehr viel Spaß. Mit den
Dubliners haben wir eine Party gefeiert, die fast 20 Jahre gedauert
hat. Die Party ist auch jetzt noch nicht ganz vorbei, aber wir haben
Kinder und ich habe sogar schon Enkelkinder. Trotzdem kommen noch immer
eine Menge Leute zu unseren Konzerten und haben ihren Spaß. Aber
trotzdem weiß ich bis heute nicht genau, was das Geheimnis unserer
Musik ausmacht. Es ist für mich immer noch ein Geheimnis -
aber ich sage: Thank God for it !"
Irland 1995 / Dublin - Glendalough
Im
April 1995 sind wir schließlich zu den DUBLINERS nach Irland gefahren.
Wir haben John Sheahan in seinem Haus in Mulhuddart beim Geigenduett
mit seiner Tochter gefilmt und sind mit Seán Cannon durch die "fair old
city" auf der Suche nach Gitarrensaiten gegangen. Seán hat sich einen
Satz Saiten in McNeill's Musicshop gekauft, dort, wo Barney McKenna
Jahre zuvor sein erstes Tenorbanjo für sechs Pfund erstanden hatte. Wir
hatten das Glück, Eamonn Campbell anzutreffen, dessen Frau gerade eine
Tochter geboren hatte, und wir sind mit ihm in ein Musikstudio
gegangen, wo wir Finbar Furey trafen, der gerade ein neues Stück mit
einem englischen Sänger aufgenommen hatte. Wir sind mit Barney
McKenna aufs Meer hinaus- und den Liffey hinaufgefahren und
haben ihn am Kaminfeuer beim Musizieren auf dem geliebten Melodeon
gefilmt. In einer Ecke stehen Barneys Instrumente herum und ganz oben
auf einem Schränkchen liegt das Five-String-Banjo von Luke Kelly.
Wir
waren schließlich bei Ronnie Drew und seiner Frau Deidre in Greystones,
wo wir ihn gemeinsam mit Sohn, Tochter und Enkelin gefilmt haben und
ihn bei einem Spaziergang am Upper Lake in Glendalough begleiteten.
In
Glendalough hatte sich nicht viel verändert. Es waren ein paar
Touristenbusse da und die Einheimischen begrüßten Ronnie als einen der
ihren.
Das Haus von Mrs. Betts, der "Urmutter aller Iren",
habe ich nicht wieder gefunden.
Für Ronnie Drew und
Barney McKenna - r.i.p.
Bremen, im August 2012
Willie
Burger
Autor & Regisseur
Nachtrag:
Liebe
Freunde und Fans,
unter www.gaeltacht.de
liegt die Broschüre "The Dubliners - 50 Jahre zum Abschied"
mit
meinem Dubliners-Tagebuch übrigens kostenlos zum Download bereit.
Herzliche
Grüße
Willie