JOSIE

 

EINE KURZGESCHICHTE VON WILLIE BURGER

 

Auf den mit rehbraunem Leder bezogenen Bänken gegenüber vom Thresen klopfen sich alte Frauen den Dreivierteltakt auf die Oberschenkel. In ihren glänzenden, verschwitzten Gesichtern spiegelt sich höllisches Vergnügen und aus ihren zahnlosen Mündern sabbert eine Mischung aus Lachen und schwarzem Bier.

Mitten im Raum hüpft so etwas wie eine Vogelscheuche aus dem "Wizzard of Oz" herum, ein alter Kauz mit schlohweißem, verfilzten Haar. Vorne in seinem Kopf steckt - wie eine Mohrrübe - eine ungeheuer lange, rote Nase, und im Gesicht mäandern dunkelblaue, feingefächerte Adern auf unwirklich violett schimmernden Wangen. Mackie Brown, so ruft man den Kerl, tanzt zu den Klängen einer leicht verstimmten Violine, die aus der Ecke zwischen den beiden, im rechten Winkel zueinander stehenden Bänken herüberfiedelt. Ein schwergewichtiger, hundswangiger alter Mann mit einer Batschkappe, die leicht nadch hinten gerutscht ist, kratzt auf seiner Geige irgendeinen dieser melancholischen Walzer, und die jüngeren Touristinnen, drei Amerikamerinnen in karierten Oberhemden, schunkeln dazu. Hinterm Tresen steht ein junger Mann, der wie ein Huhn aussieht, und putzt Guinness-Gläser. Sein Vater - die Ähnlichkeit mit dem "chicken" ist unübersehbar - kommt aus dem neben der Bar liegenden Lebensmittelgeschäft herüber und ruft irgendeinen aufmunternden Satz in den Raum, worauf Mackie Brown die Ballade "The Seven Drunken Nights" anstimmt und beim Refrain wie ein Ziegenbock durch den Raum springt. Der Dorfpolizist, der wie immer im Dienst trinkt und das Szenario beobachtet, verprustet sich vor Lachen, als der Alte einen Buckel macht, der dem "silly old fool" gilt, den man soeben hörnte. Die Amerikanerinnen klatschen fast schon hysterisch und der alte Fiddler intoniert mit stoischer Ruhe zu dem Gesang desw Bucklers eine Art zweite Stimme auf der Geige, die zusammen mit dem Gekrächze von Mackie Brown eine himmelschreiende Dissonanz erzeugt, während der Sänger einen Parforceritt durch die Tonleitern vollführt. Das "chicken" hinterm Thresen hat seine Gläser fertig geputzt und beginnt nun, mit einer schon fast provozierenden Langsamkeit neues schwarzes Bier einzufüllen. Eines nach dem anderen wird bis an den oberen Rand gefüllt, so dass es fast überschwappt. Dabei schaut der Junge konzentriert zu, wie der cremige Schaum immer kürzere Schlieren bildet, bis sich alles zhu einer cirka drei Zentimeter dicken weißen Schicht verdickt hat. Auf diese Weise füllt er alle Gläser nacheinander immer mehr auf, streicht dann nacheinander mit einem Lineal den überstehenden Schaum ab und nickt seinem Vater zu. "Drinks ready, Lads !" ruft dieser und: "Josie, another Paddy ?". Der dicke Fiddler erhebt sich mühsam aus seiner Ecke und torkelt an den Thresen, wo ihm der Wirt der "Green House Bar" das Whiskeyglas bis zur Hälft füllt.

Die "Green House Bar" liegt an der Hauptstraße von Ardara, was nichts besonderes ist, weil alle Kneipen an der Hauptstraße liegen. Das Besondere ist jedoch das ganz und gar Normale, was diese Kneipe ausmacht: direkt neben dem dazugehörigen "Supermart", ungemütlich, viel zu hell erleuchtet, geschmacklose, hellbraune Lederbezüge, Fußballbilder und Plakate an den Wänden und obendrein ein stets stinkendes Pissoir, was in Donegal auch nichts Ungewöhnliches ist.

Was also macht den Reiz dieser Kneipe aus ?

Es ist der Moment, in dem man hineingeht. Und dieser Moment ist entscheidend. Mein erster Moment in der "Green House Bar" war die Situation, in der mich der alte Mackie Brown fast über den Haufen sprang, dabei irgendein "xcuse mhh" zwischen den Zähnen zermahlte, während mich eine der alten Frauen am Arm fasste und zu einem Walzer mit sich riss. Ich hatte keine Chance, diesen Tanz zu verweigern, und musste einige Runden mit der Alten drehen, bevor ich mich mit einer Ausrede von ihr befreite und den Rest des Abends damit beschäftigt war, ihre weiteren Aufforderungen abzuwehren.

Ich sitze also zunächst nur herum und sehe dem munteren Treiben zu. Die Männer am Thresen, die sich von "chicken" immer wieder die Gläser füllen lassen, radebrechen in einem unmöglichen Dialekt, von dem ich allenfalls einige Worte erheischen kann und fordern den alten Fiddler immer wieder auf, nolch eine Meloldie zu spielen.

Ich sitze neben den Amerikanerinnen, die immer betrunkener werden, schlürfe mein Guinness und beobachte den dicken Alten bei seinem Geigenspiel.

James Josie McHugh, so heißt er, hält den Bogen mit seinen dicken Fingern etwas zehn Zentimeter vom Frosch entfernt und fiedelt die Jigs und Reels mit einer filigranen Anmut, die man solch klobigen Fingern kaum zutraut. Das untere Ende der Violine verschwindet fast unter seinem Doppelkinn und die die Frequenz der rauchigen Töne, die er dem Instrument entlockt, schweben wie osszilierende Lichtfasern über dem nebligen Gemurmel des Raumes.

Mackie Brown, der mit seinem Ziegengebuckle nicht aufhören kann, kontrapunktiert den Tanz der alten Frauen zu Josies Hornpipe auf wundersam blödsinnige Weise und der rotwangige, stets lächelnde Kneipenbesitzer hat sich auf ein Gespräch mit einem der Thresenhocker eingelassen, der nur deshalb nicht von seinem Hochsitz herunterfällt, weil er von links und rechts gestützt wird.

Ich mußte wohl eine ganze Weile ununterbrochen in seine Richtung gestarrt haben, als mich der alte Fiddler plötzlich in einer der kurzen Tanzpausen anlächelt und mir zunickt.

"Are you playin' yourself?" fragt er mich und als ich abwinke, beginnt er ein Medley zu spielen, das sich von "Boulavogue" über "The Hen's March through the Midden" bis zum "Four-Poster-Bed" erstreckt und in einem furiosen Finale bei den "Nine Points of Roguery" endet.

Die inzwischen völlig besoffenen Amerikanerinnen quittieren die Musik mit schrillen Begeisterungsschreien. Mackie Brown hat sich in der gegenüberliegenden Ecke schlafen gelegt, der Wirt ruft "last orders please" und die alte Frau hat ihr Interesse an ihrem jungen Tanzpartner längst verloren.

Es ist schon spät, als ich müde in mein Bett bei Mrs. Feeney falle und mit den Bildern des Tages in einen traumerüllten Schlaf sinke.

Am Abend darauf gehe ich wieder ins "Green House", doch Josie ist nicht da. Stattdessen sitzt ein knorriger kleiner Kerl neben mir am Thresen, der offenbar schon etliche Whiskey intus hat. Er versucht, eine Geige zwischen Kinn und Schulter einzuklemmen, was ihm jedoch nicht gelingt. Also setzt er sie auf sein Knie und fiedelt mit schrecklich-schauerlichem Ton irgendeinen Marsch. Er beendet das Stück nicht mehr. Mit einem unmenschlich klingenden Grunzen aus seinem zahnlosen, dünnlippigen Mund fällt er stumpf nach hinten vom Hocker, wobei es ihm gerade noch gelingt, die Geige auf dem Thresen liegen zu lassen - fast schon ein akrobatisches Kunststück. Ich denke, dass er sich sämtliche Knochen gebrochen haben muss, denn es hatte einen schönen Schlag getan. Doch der alte Kerl kramt seine Glieder wieder zusammen, erhebt sich vom Boden und steigt wieder auf den Hocker.

Der Wirt hat inzwischen die Geige in Sicherheit gebracht und meint lakonisch:

"Go home, Paddy, it's enough for today!"

Aber Paddy, ein Fischer aus dem Nachbardorf, scheint nocht nicht genug zu haben. Er beschimpft den Wirt mit einigen unverständlichen Worten und zu mir gewandt sagt er entschuldigend:

"I am very sorry, young Man, but today I was very bad. But at home, at the fireplace I will wash them all away, I wash them all away, believe me, I wash them ..."

Dann sackt sein Kopf auf den Thresen und er schläft einfach ein. Der Wirt und sein Huhn heben den Volltrunkenen auf, schultern ihn und bingen ihn zu einem Wagen, der auf der Straße wartet. Durch das Fenster beobachte ich, wie dem Fahrer ein kleines Trinkgeld zugesteckt wird und los geht's.

"I'm sorry for Paddy!" sagt der Wirt zu mir, "but that's the way it goes. Another drink ?"

Ich verneine, bestelle statt dessen einen Kaffee und frage nach Josie.

Josie sei mit drei anderen Geigern bei einem Tanzabend außerhalb des Städtchens, wo sie später Musik machen würden, und es würde sich bestimmt ohnen, dort hin zu gehen, sagt der Wirt.

Ich bedanke mich, zahle meinen Kaffee und gehe über einige kleine Nebenstraßen zu dem Platz, wo ein großes Zelt aufgebaut ist und wo der Traditionelle Tanz stattfinden soll. Einige der Bewohner von Ardara sind schon da und kurz vor dem Beginn des kleinen Festes strömen mit einem Mal an die zweihundert Leute, junge, alte ins Zelt. Mit einigen anderen Touristen - die drei Amerikanerinnen sind natürlich auch wieder da und lächeln mir zu - harren wir der Dinge, die schon bald kommen werden.

Es kommt, wie es kommen soll. Und doch kam es anders.

Die vier schon alle etwas älteren Geiger kletterten auf die Bühne, gefolgt von einem jungen Gitarristen, der sie begleiten sollte.

Ungefähr zwanzig Mädchen in Kostümen stellten sich in einer Reihe auf, ihnen gegenüber etwa gleich viel junge Männer. Die Musik setzte ein, eine Polka.

Die Tänzerinnen und Tänzer waren wie auf ein geheimes Kommando hin ihre rechten Beine nach vorn, immer wieder und wieder, balancierten auf dem anderen, dem linken und wechselten dann, einmal kurz mit den Händen im Takt klatschend, auf das andere Bein und so weiter. Dann umfaßten sie sich gegenseitig und wirbelten sich herum.

Polkas, Jigs, Reels, einige Märsche, Setdances, Slipjigs und sogar Slides folgten aufeinander und immer mehr Tänzen faßten den Mut, sich eine Tänzerin zu suchen und vor der Bühne auf dem Grasboden in die Rhythmen einzusteigen.

Mit einem Male gibt es einen lauten, knirschenden Ton, der nichts Gutes verheißt. Dann sieht man, wie die vier Geiger langsam hinter der Bühnenfront versinken. Es folgt ein berstender Ton, dann noch einer und schließlich ein lautes Krachen. Die Geiger sind verschwunden, der Gitarrist konnte gerade noch zur Seite springen.

Mit einem Male herrscht ein vollkommenes Chaos. Schreie. Hetzende, wild herum laufende Menschen. Aufgeregtes Gestikulieren und ein Lärm, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Die Bühne sei eingebrochen, meint einer und ein anderer kann es "absolutely" nicht glauben.

Ich sehe, wie man die vier offenbar unversehrten Geiger aus den Trümmern herausholt und sie aus dem Gefahrenbereich begleitet. Ich sehe, wie einer der jungen Männer den alten Josie stützen will und von seinem Gewicht an die Bühnenfront gedrückt wird, die als einzige noch stehen geblieben ist. Und ich sehe, dass alle vier ihre offenbar nicht beschädigten Geigen noch in den Händen halten. Sie schlagen sich den Staub aus den schwarzen Anzügen, und allmählich wird aus dem aufgeregten Rufen und Schreien allgemeines Gelächter. Dann setzen sich die vier Geiger auf Stühle, die man schnell vor die Bühne postiert, und es geht weiter als sei nichts passiert. Die Tänzer formieren sich wieder vor den Tänzerinnen auf dem Grasboden, nur der Gitarrist fehlt, denn seine Gitarre ist mit samt der Holzbühne zerbrochen. Die noch nicht gespielten Melodien und zuletzt die irische Nationalhymne beenden schließlich einen Abend, der unvergeßlich bleibt.

Am nächsten und am übernächsten Abend ist James Josie McHugh wieder in der "Green House Bar". Es gibt ein Thema, das in sämtlichen Variationen besprochen wird, "The wonder of the Fleadh". Die Bühne sei mindestens drei Meter hoch gewesen, meint einer und ein anderer widerspricht heftig. Der Streit dauert eine ganze Weile, bis der Wirt schließlich Josies Geige unterm Thresen hervorholt und sie triumphierend in die Luft hebt.

"The Unbreakable" schreit er und reicht sie einer jungen Touristin, die ein wenig verloren zwischen den Gestikulierenden herum steht.

"Would you please pass it over to the old fiddle player, over in the corner?" fragt der Wirt und die Unzerbrechliche wandert, immer wieder kopfschüttelnd bestaunt, durch viele Hände schließlich zu Josie, der sie sich unters Kinn klemmt und einen seiner Lieblingswalzer spielt.

Die drei Amerikanerinnen feiern ihren letzten Abend in Ardara und wollen morgen weiter nach Killybegs.

Der alte Ziegenbock Mackie Brown fehlt an diesem Abend. Er sei auf einer Hochzeitsfeier in Portnoo und das sei gut so, meint eine der alten Frauen.

"Mackie fummelt mir immer am Hintern herum" sagt sie kichernd und ihre Begleiterin schlägt ihr mit gespielter Entrüstung auf den Oberarm.

"What do you mean the young German will think about us?" schimpft sie, lachend in meine Richtung gewandt.

Das Huhn füllt die Gläser mit dem schwarzen Bier, und Josies Whiskeyglas wird nicht leerer.

Zu vorgerückter Stunde schafft es der alte Fiddler nicht mehr, "The Mason's Apron" zu spielen. Irgendeine der alten Frauen singt eine gälische Ballade, worauf es mit einem Male mücksmäuschenstill wird. Als sie endet, klatschen alle begeisterten Beifall. "Last Oders" ist längst vorbei, als der Dorfpolizist durch einen Nebeneingang herein kommt und ein Guinness bestellt.

Gegen halb eins, die Tür der "Green House Bar" ist längst verriegelt, klopft einer wie verrückt an die Tür und nach einem Austausch von Blicken zwischen Wirt und Dorfpolizist, wird der Klopfer hereingelassen. Es ist Mackie Brown. Er hat sich früher von der "fuckin' marriage" verabschiedet, weil es dort keine Drinks mehr gab und man hat ihm einen schnellen "lift" nach Ardara gegeben.

Natürlich singt er "The Seven Drunken Nights", wobei es scheint, dass er selbst bereits in der achten Nacht angekommen ist. Ich taumle gegen zwei Uhr sturzbetrunken ins Bed & Breakfast bei "Feeneys", stolpere über den Hund, der wie immer am unteren Ende der Treppe schläft, und erinnere mich nicht mehr, wie ich die Treppe rauf und ins Bett gekommen bin.

Der nächste Tag ist sonnig. Ein sanfter Sommerwind weht von Süden herein und einige Schäfchenwolken künden das längst erhoffte warme Augustwetter an.

Ich setze mich vor "Mrs. Feeney's B & B" auf eine Holzbank und schaue die Straße zur "Green House Bar" hinauf, die weiter oben eine Kurve nach rechts macht und nach Glenties führt.

Der Supermart ist geöffnet und man geht dort ein und aus. Zur Linken grüßt Peter Oliver einen Passanten, der an seiner ehemaligen Bar vorbeigeht und ein paar Kinder kommen schreiend aus der Schule nach Hause gelaufen.

Ich entschließe mich auf einen langen Spaziergang zum "Glengesh-Pass" und packe meinen Rucksack für einen Tagesausflug.

Als ich die Straße nach Glencolumbkille entlang gehe, bleibe ich kurz am Friedhof von Ardara stehen. Die ehemals schwarzgestrichene Kirche wurde inzwischen mit weißer Farbe übertüncht und es gibt einige neue Gräber an der oberen Friedhofsmauer.

Ich betrachte den Friedhof eine Zeit lang. In einem der Gräber wurde James Josie McHugh beerdigt, vor mehr als zwanzig Jahren, Anfang der Achtziger Jahre. Josie starb, wie alle wirklichen Künstler, an den Folgen seines ausschweifenden Lebens.

Zurück zur Hauptseite